KLARTEXT FÜR IT OHNE BARRIEREN

iDESkmu

#06 - Europäisches und internationales Recht sowie Internationale Normen und Standards in der Barrierefreiheit

Expertentalk mit Uwe Boysen, ehem. Richter und Vorstand des DVBS sowie Interview von Joachim Voss, Scientec Internet Applications + Media GmbH

13.12.2021 47 min

Zusammenfassung & Show Notes

Hören Sie heute den Expertentalk zwischen Wolfgang Haase, externer Berater im Projekt iDESkmu, und Uwe Boysen, Jurist, Diplo. Sozialwissenschaftler und ehem. Vorstand des DVBS und Richter am Bremer Amts-, Landes und Oberlandesgericht. Sie diskutieren über das Thema Barrierefreiheit im europäischen Recht und internationalen  bzw. Völkerrecht.
Im nachfolgenden zweiten Expertentalk tauschen sich  Detlef Girke, ebenso externer Berater, und Joachim Voss von der Scientec Internet Applications + Media GmbH, über Internationale Normen und Standards zur IT- Barrierefreiheit aus.

Informationen zu den Beteiligten

Uwe Boysen, ehem. Richter und Vorstand des DVBS
Weser Kurier über Uwe Boysen
https://www.weser-kurier.de/bremen/urteil-ohne-ansehen-der-person-doc7e3rm9xrpyq1g5qz4vi?reloc_action=artikel&reloc_label=/bremen/bremen-stadtreport_artikel,-Urteil-ohne-Ansehen-der-Person-_arid,1472267.html

Podiumsdiskussion: Sind die Leistungsträger noch up to date?
https://www.dvbs-online.de/index.php/teilhabe-im-job-–-podiumsdiskussion

Aktuelle Fachbeiträge von Uwe Boysen
Mit dem Europäischen Rechtsakt zur Barrierefreiheit („European Accessibility Act“) vom 17. April 2019 haben das Europäische Parlament und der Rat eine Richtlinie über die Barrierefreiheitsanforderungen für Produkte und Dienstleistungen erlassen, um diesbezügliche Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten anzugleichen und somit das reibungslose Funktionieren des europäischen Binnenmarkts zu fördern.

Die Europäische Richtlinie wurde in Deutschland durch das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz vom 16. Juli 2021 in umgesetzt. Die Autoren Uwe Boysen und Hans-Joachim Steinbrück haben dies zum Anlass genommen, um in einem vierteiligen Beitrag den European Accessibility Act (EAA) sowie das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) vorzustellen und zu besprechen.

Vom European Accessibility Act zum Barrierefreiheitsstärkungsgesetz – Teil I: Hintergrund und Anwendungsbereich des EAA und des BFSG
Teil II: Barrierefreiheitsanforderungen und Pflichten der Wirtschaftsakteure
Teil III: Marktüberwachung und Barrierefreiheitsanforderungen in anderen Rechtsakten der EU
Teil IV: Rechtsdurchsetzung und Fazit

Wolfgang Haase
Externer Berater im Projekt iDESkmu und Inhaber whts

Diplom-Ökonom mit Schwerpunkt Internationales Marketing und Management, arbeitet seit vielen Jahren als Unternehmensberater, Projektmanager und im Business Development in Deutschland, Frankreich und Spanien

Dr. Joachim Voß
Scientec Internet Applications + Media GmbH
Tel.: (040) 8400 2431
E-Mail: voss@scientec.de
Web: www.scientec.de

Detlef Girke
Externer Berater im Projekt iDESkmu und Inhaber von
BITV-Consult
Tel. +49 931 4173 9070
girke@bitvconsult.de
https://bitvconsult.de

QUELLEN
Das Matterhorn Protokoll
https://www.pdfa.org/resource/matterhorn-protokoll-1-02-deutsche-uebersetzung/
https://www.pdfa.org/wp-content/uploads/2016/08/MatterhornProtokoll_1-02-2016-06-29.pdf

Onlinezugangsgesetz (OZG)
https://www.bmi.bund.de/DE/themen/moderne-verwaltung/verwaltungsmodernisierung/onlinezugangsgesetz/onlinezugangsgesetz-node.html

Gesetz zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen
http://www.gesetze-im-internet.de/bgg/

Verordnung zur Schaffung barrierefreier Informationstechnik nach dem Behindertengleichstellungsgesetz (BITV)
http://www.gesetze-im-internet.de/bitv_2_0/

RICHTLINIE (EU) 2016/2102 DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES vom 26. Oktober 2016 über den barrierefreien Zugang zu den Websites und mobilen Anwendungen öffentlicher Stellen
https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=CELEX%3A32016L2102

Links zu allen rechtlichen Vorgaben zur EU zur digitalen Barrierefreiheit von öffentlichen Stellen seit 2016
https://www.bundesfachstelle-barrierefreiheit.de/DE/Themen/EU-Webseitenrichtlinie/Vorgaben-EU/vorgaben-eu_node.html

WCAG
https://www.w3.org/Translations/WCAG20-de/

Transkript

Nadia David, iDESkmu
00:00:03
KLARTEXT - Der Podcast FÜR IT OHNE BARRIEREN. Interessante Informationen und wertvolles Wissen zur digitalen Barrierefreiheit in der Arbeitswelt. Ein Podcast zum Forschungsprojekt iDESkmu, gefördert vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales, unter der Federführung des Blinden- und Sehbehinderten- vereins Hamburg. Hallo und herzlich willkommen heute zur Episode #06. Mein Name ist Nadia David. Hören Sie den ExpertenTalk zwischen Wolfgang Haase, externer Berater im Projekt iDESkmu, und Uwe Boysen, Jurist, Diplom Sozialwissenschaftler und ehemaliger Vorstand des DVBS und Richter am Bremer Amts-, Landes- und Oberlandesgericht. Sie diskutieren über das Thema Barrierefreiheit im europäischen Recht und internationalem bzw. Völkerrecht. Im nachfolgenden zweiten ExpertenTalk tauschen sich Detlef Girke, ebenso externer Berater, und Joachim Voss von der Scientec Internet Applications & Media GmbH, Standards zur IT Barrierefreiheit aus. In den Shownotes finden Sie die Timecodes zu den Beiträgen und Hintergrundinformationen zu unseren Gesprächspartnern und Gästen. Zum Einstieg in die Episode hören Sie wieder einen kurzen Auszug aus einem bekannten Märchen.
Screenreader
00:01:31
Frau Holle. Eine Witwe hatte zwei Töchter, davon war eine fleißig und die andere faul. Eines Tages fiel der fleißigen eine Spule in den Brunnen. Sie weinte, lief zur Stiefmutter und erzählte ihr das Unglück. Diese schimpfte heftig und sprach: „Du hast die Spule hinunterfallen lassen, so hol sie auch wieder herauf.“ So ging das Mädchen zum Brunnen zurück und wusste nicht, was es tun sollte: In seiner Herzensangst sprang es in den Brunnen hinein, um die Spule zu holen. Es verlor die Besinnung, und als es erwachte und wieder zu sich kam, war es auf einer schönen Wiese wo die Sonne schien und viele tausend Blumen standen. Es kam zu einem Backofen, der voller Brot war. Das Brot rief: „Ach, zieh mich raus, zieh mich raus, sonst verbrenn ich: ich bin schon längst ausgebacken.“ Da holte es mit dem Brotschieber alle Brote heraus.
Nadia David, iDESkmu
00:01:47
Das war Frau Holle. Gelesen von Stefan aus NVDA, einem Open Source Screenreader in der Geschwindigkeit 60 - beschleunigt. Nun zu unserem ersten ExpertenTalk in der heutigen Episode.
Wolfgang Haase, Externer Berater
00:02:06
Wir sprechen heute mit Uwe Boysen zum Thema Internationales Recht und Europarecht. Uwe, bevor wir einsteigen, würdest du uns bitte einen kurzen Überblick über deinen beruflichen Hintergrund geben?
Uwe Boysen, ehem. Richter und Vorstand des DVBS
00:02:18
Ja, schönen guten Tag und vielen Dank für die Möglichkeit, hier ein bisschen Auskunft zu erteilen. Ich bin von Hause aus Jurist, aber auch Diplom Sozialwissenschaftler, habe dann aber in der bremischen Justiz knapp 30 Jahre gearbeitet. Beim Amts-, beim Land- und beim Oberlandesgericht und ein bisschen außerhalb des beruflichen Hintergrunds war ich lange Jahre im Vorstand des Deutschen Vereins der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf und von 2004 bis 2016 auch dort der Vorsitzende.
Wolfgang Haase, Externer Berater
00:02:53
Wir wollen heute, wie gesagt, über dieses Thema Internationales Recht und seine Auswirkungen auf Menschen mit Beeinträchtigungen sprechen. Ja, womit fängt man da am besten an?
Uwe Boysen, ehem. Richter und Vorstand des DVBS
00:03:04
Juristen lieben ja Hierarchien und es gibt sozusagen eine Normenhierarchie. Die höchsten Normen sind eigentlich die Normen des Völkerrechts. Und da gibt es dann völkerrechtliche Verträge, die zwischen ganz vielen Völkerrechtssubjekten, also Staaten abgeschlossen werden. Oder es gibt auch Verträge, die nur zwischen einzelnen, zwei oder drei Staaten abgeschlossen werden. Und Verträge können auch geschlossen und ratifiziert werden von Gebilden, die selbst kein Mitgliedsstaat oder kein Staat sind, beispielsweise die EU. Und wenn man fragt, was gibt es da denn hier gerade im Bereich für Menschen mit Beeinträchtigungen, so ist es dort in erster Linie die UN-Behindertenrechtskonvention, UNBRK, die 2006 verabschiedet worden ist. Für Deutschland ist die 2009 in Kraft getreten und für die EU, die sie auch ratifiziert hat, dann 2011.
Wolfgang Haase, Externer Berater
00:04:06
Welche Auswirkung hat denn das Völkerrecht? Ja, um Wirkungen zu entfalten, müssen diese völkerrechtlichen Verträge von den Nationalstaaten oder eben von übernationalen Gebilden ratifiziert werden. Das ist mit der BRK, wie ich eben schon gesagt habe, auch geschehen. Und dann müssen diese Verträge auch innerstaatlich beachtet werden.
Wolfgang Haase, Externer Berater
00:04:34
Begründet die Behindertenrechtskonvention Rechte für Menschen mit Beeinträchtigungen, die sie zum Beispiel auch einklagen können?
Uwe Boysen, ehem. Richter und Vorstand des DVBS
00:04:42
Im Allgemeinen nicht. Die Konvention enthält Vorgaben für die Vertragsstaaten, die sie zwingen sollen, tätig zu werden. Zum Beispiel gibt es den Artikel 9 der Menschenrechtskonvention, der ganz wichtig ist und über den wir vielleicht kurz sprechen können.
Wolfgang Haase, Externer Berater
00:05:05
Was besagt der denn?
Uwe Boysen, ehem. Richter und Vorstand des DVBS
00:05:07
Der verlangt, wenn man es mal vereinfacht formuliert, dass alle Lebensbereiche für Menschen mit Beeinträchtigungen zugänglich sein müssen. Und dazu gehören nicht nur die physische Umwelt, sondern auch die Kommunikation im weitesten Sinne, also beispielsweise auch die IT. Aber wie gesagt, es gibt keinen direkten Anspruch aus der Behindertenrechtskonvention. Es ist etwas, was die Staaten binden soll. Wenn wir von einer Rangfolge der Normen, also der sogenannten Normen-Hierarchie ausgehen, was steht dann unterhalb des Völkerrechts? Unterhalb des Völkerrechts, kann man jedenfalls sagen, steht natürlich die nationale Verfassung, also bei uns das Grundgesetz. Und hier gibt es besonders den Artikel 3, Absatz 3, Satz 2 Grundgesetz, der sagt, Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. In gewisser Konkurrenz dazu stehen dann tatsächlich auch Regelungen, die es im EU-Recht gibt, auf die wir ja gleich noch kommen werden.
Wolfgang Haase, Externer Berater
00:06:18
Und wozu dienen dann diese Programm- ansätze? Wenn ich das richtig verstanden habe, ist das ja immer noch kein einklagbares Recht.
Uwe Boysen, ehem. Richter und Vorstand des DVBS
00:06:26
Das ist richtig. Es gibt einen UN-Ausschuss, der die Fortschritte bei der Umsetzung der Behindertenrechtskonvention in den einzelnen Staaten, die diese Konvention ratifiziert haben, beobachtet. Und dieser Ausschuss, dem müssen die Vertragsstaaten in regelmäßigen Abständen Berichte vorlegen, wie denn die UN-Behindertenrechtskonvention in ihrem Land umgesetzt worden ist. Deutschland hat einen ersten Bericht 2014 vorgelegt und der ist 2015 auch von diesem Ausschuss bewertet und beurteilt worden. Und da hat es auch eine ganze Reihe von Kritikpunkten gegeben. Das ist sozusagen eine öffentliche Möglichkeit, hier Druck auf einen Mitgliedsstaat, einen Ratifizierunsstaat auszuüben, in dem dieser Ausschuss sagt, ihr kommt den Anforderungen der UN-BRK nicht nach. Das muss den Staat natürlich nicht dazu zwingen, etwas zu tun, aber es wird ihm auf Dauer, wenn man es ihm immer wieder vorhält, sicherlich unangenehm sein. Und dann ist die Hoffnung, dass durch diesen Mechanismus dann tatsächlich auch mehr im Hinblick auf die Forderungen aus der BRK in den einzelnen Staaten erreicht wird.
Wolfgang Haase, Externer Berater
00:07:52
Du hattest vorhin schon erwähnt, dass die UN-Behindertenrechtskonvention auch von der EU ratifiziert worden ist. Schauen wir vielleicht jetzt einmal auf das Europarecht.
Uwe Boysen, ehem. Richter und Vorstand des DVBS
00:08:02
Ja, vorab will ich dazu noch mal folgendes sagen: Man kann die EU ja sehr kritisch sehen. Zu groß, zu umständlich mit ihren 27 Mitgliedsstaaten und so weiter. Und auch in der Pandemie hat sie sich ja nun anscheinend jedenfalls nicht mit Ruhm bekleckert. Aber im Bereich des Rechts für Menschen mit Beeinträchtigungen hat sie doch in den letzten 20 Jahren so einiges geleistet.
Wolfgang Haase, Externer Berater
00:08:31
Kannst du da ein paar Beispiele nennen, bitte?
Uwe Boysen, ehem. Richter und Vorstand des DVBS
00:08:34
Ja. Bevor ich darauf eingehe, müssen wir uns vielleicht doch kurz über die Ziele der Union im Allgemeinen verständigen. In der Europäischen Union sollen alle Bürgerinnen und Bürger vier Grundfreiheiten genießen, nämlich die Freiheit des freien Warenverkehrs, des freien Kapitalverkehrs, die Freizügigkeit im Hinblick auf den Ort, wo man in der EU leben will und an dem man arbeiten will. Und die Freiheit für Unternehmen, sich irgendwo im Bereich der EU niederzulassen und ihre Dienstleistungen anzubieten. Und die EU wacht nun darüber, dass hier flächendeckend gleiche Wettbewerbsbedingungen herrschen. Soziale Belange, das ist sicherlich einer der Kritikpunkte, kommen da möglicherweise unter die Räder und tun es zum Teil auch. Aber bei der Begründung für Rechtsakte der EU (was Rechtsakte sind, darüber reden wir gleich noch) wie sie sich jedenfalls für Menschen mit Beeinträchtigungen auswirken, wird zunächst hier auch immer wieder betont, dass es um die Schaffung von fairen Wettbewerbsbedingungen für Unternehmen in den verschiedenen Mitgliedsstaaten geht. Das muss auch so sein, weil ansonsten die EU gar keine Zuständigkeit für solche Vorhaben hätte. Denn soziale Angelegenheiten sind und bleiben auch im Bereich der Mitgliedsstaaten.
Wolfgang Haase, Externer Berater
00:10:17
Du sprachst eben von den Rechtsakten. Was verbirgt sich denn dahinter?
Uwe Boysen, ehem. Richter und Vorstand des DVBS
00:10:21
Die EU hat verschiedene Handlungsmöglichkeiten. Die wichtigsten sind die Verordnungen und die Richtlinien. Verordnungen wirken direkt in allen Mitgliedsstaaten. Die einzelnen Staaten, also auch die Bundesrepublik, müssen sie nicht mehr umsetzen. Die Gerichte müssen sie direkt beachten und so weiter. Bei Richtlinien ist das anders. Sie müssen jeweils in sogenanntes innerstaatliches Recht umgesetzt werden, und zwar immer mit einer von der EU auch gesetzten Frist. Häufig handelt die EU durch solche Richtlinien, bei denen dann ein deutsches Gesetz diese Umsetzung regeln muss.
Wolfgang Haase, Externer Berater
00:11:08
Hast du dafür ein Beispiel?
Uwe Boysen, ehem. Richter und Vorstand des DVBS
00:11:10
Ja, ein gutes Beispiel auch aus unserem Bereich ist die Richtlinie zur Barrierefreiheit von Websites, wie es heißt, und mobilen Anwendungen öffentlicher Stellen aus dem Jahr 2016. Die musste nicht nur im Bund, sondern auch in allen 16 Bundesländern bis September 2018 umgesetzt werden.
Wolfgang Haase, Externer Berater
00:11:33
Wie läuft denn die Umsetzung einer solchen Richtlinie ab?
Uwe Boysen, ehem. Richter und Vorstand des DVBS
00:11:36
Ja, hier gibt es verschiedene Möglichkeiten für den Mitgliedsstaat. Entweder macht man ein komplett neues Gesetz zur Umsetzung oder man integriert die Regelungen der Richtlinie in ein bereits bestehendes Gesetz. Bei der eben erwähnten Richtlinie hat man ihre Vorschriften ins BGG, also ins Behindertengleichstellungsgesetz des Bundes und dann auch in die entsprechenden Landesgleichstellungsgesetze in allen Ländern eingefügt.
Wolfgang Haase, Externer Berater
00:12:09
Muss so eine Richtlinie immer wortgetreu umgesetzt werden oder haben die Mitgliedsstaaten da so etwas wie Spielräume?
Uwe Boysen, ehem. Richter und Vorstand des DVBS
00:12:17
Typische juristische Antwort: Das kommt darauf an. Das kommt drauf an, wie der Text der Richtlinie ausgestaltet ist. Wenn wir noch mal die eben erwähnte Richtlinie zurate ziehen, dann war es da so, dass den Mitgliedsstaaten gewisse Spielräume geblieben sind. Aber das ist nicht in allen Richtlinien so. Und nach deinen Erfahrungen werden diese Spielräume genutzt, also von den Mitgliedstaaten. Ich kann das natürlich nicht generell sagen. Ich weiß nur, dass die Bundesrepublik das weitestgehend nicht tut. Die Bundesregierung hat eine Art Dogma aufgestellt, in dem sie sagt, es gibt nur eine 1:1-Umsetzung von Richtlinien und nichts darüber hinaus. Also irgendetwas, was vielleicht noch sinnvoll wäre, das setzen wir nicht um (Die EU gibt uns sowieso schon so viele Sachen vor, dass wir nicht noch darüber hinausgehen). Das ist eigentlich sehr schade, weil so die Chance eigentlich einer wirklich fortschrittlichen Gesetzgebung für Menschen mit Beeinträchtigungen teilweise vertan wird.
Wolfgang Haase, Externer Berater
00:13:25
Und wie kommen diese Verordnungen und Richtlinien auf europäischer Ebene zustande?
Uwe Boysen, ehem. Richter und Vorstand des DVBS
00:13:32
Ja, da müssen wir über das Gesetzgebungsverfahren auf EU-Ebene reden. Das ist ziemlich kompliziert für die ganze EU. Dazu muss man zunächst wissen, wer hier eigentlich überhaupt handeln kann und wer das sind diese Akteure. Das ist hier anders als bei den einzelnen Mitgliedsstaaten oder konkret bei der Bundesrepublik. Hier haben wir in der EU einmal den Europäischen Rat, das sind die Regierungschefs der 27 Mitgliedsstaaten, die, wie wir ja alle wissen, immer bis in die frühen Morgenstunden tagen und dann irgendwelche butterweichen Kompromisse verabschieden. Und dann haben wir natürlich das Europäische Parlament, das alle fünf Jahre gewählt wird, zuletzt 2019. Und schließlich ist da noch die Europäische Kommission, die meist die Verordnungs- und Richtlinien-Entwürfe einbringt. Für Juristinnen und Juristen, wen es interessiert, die Kompetenzen ergeben sich einmal aus dem Vertrag über die Europäische Union - EUV, den kennt man auch als Lissabon-Vertrag. Und dann gibt es einen weiteren Vertrag über die Arbeitsweise der EU. Das ist der AEUV, wo weitere Einzelheiten geregelt sind. Und so ein Verfahren - wie läuft das konkret ab? Hier muss man wissen, das ist anders als in den Mitgliedsstaaten, der Zustimmung sowohl des Parlaments wie aber auch des Europäischen Rates bedarf, wenn eine solche Richtlinie oder eine Verordnung tatsächlich in Kraft gesetzt werden soll. Also die Regierungen der Mitgliedsstaaten müssen zustimmen. Das ist ja nun völlig anders als bei uns. Wenn man das auf deutsche Verhältnisse übertragen würde, würde das bedeuten, dass kein Gesetz vom Bundestag gegen den Willen der Bundesregierung beschlossen werden könnte. Und wie wir wissen, ist das natürlich grundsätzlich der Fall, wenn dann wahrscheinlich auch eine Koalition platzen würde. Aber grundsätzlich kann der Bundestag natürlich sagen, wir beschließen das und dann wird das Gesetz. Ob die Bundesregierung das nun gut findet oder nicht, ist uns völlig egal. Und das geht auf EU-Ebene nicht.
Wolfgang Haase, Externer Berater
00:15:50
Okay, und was hat das für Konsequenzen?
Uwe Boysen, ehem. Richter und Vorstand des DVBS
00:15:52
Die Folge ist, dass es immer wieder zu ziemlich langwierigen Verhandlungen zwischen dem Parlament, dem Europäischen Rat, also den Regierungschefs und der Europäischen Kommission kommt, bei denen dann versucht werden muss, irgendwie einen Kompromiss zu finden. Das ist das sogenannte Trilog Verfahren von drei Akteuren. Das ist nicht öffentlich und stellt - ja, ich denke ein ziemliches Demokratiedefizit der Union dar, weil man nie weiß, was die dann eigentlich im Hinterzimmer gemuschelt haben. Das erklärt aber auch, warum so viele eigentlich durchaus positive Initiativen des Parlaments. Das Parlament ist da und auch die Kommission sind da eher fortschrittlich tendenziell. Das erklärt, dass dann schließlich diese Initiativen versanden und die Bundesrepublik spielt da teilweise eine nicht gerade rühmliche Rolle, weil sie im Rat als auch im Hinblick auf Behinderten- gesetzgebung einiges blockiert hat und weiter auch blockiert. Etwa eine Reform des allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes. Darüber wird Christiane vielleicht in dem nächsten Podcast noch was sagen.
Wolfgang Haase, Externer Berater
00:17:10
OK, ja! Ja, das ist ja sehr unglücklich, diese Konstellation. In der Tat. Gibt es noch weitere Gründe, warum so viele weiche Kompromisse geschlossen werden, also außer, dass die Herrschaften bis morgens um fünf Tagen?
Uwe Boysen, ehem. Richter und Vorstand des DVBS
00:17:23
Ja, nach meiner Auffassung gibt es da noch den Aspekt der Lobbyisten. In Brüssel gibt es eine ganze Heerschar von Lobbyisten für die verschiedensten Interessengruppen. Natürlich für die Wirtschaft, also für Unternehmen, aber ebenso für Verbraucher- oder Umweltschutzverbände, aber auch Behindertenverbände haben sich im EDF - in dem European Disability Forum -zusammengeschlossen, um hier in diesen Bereichen möglicherweise Druck ausüben zu können oder jedenfalls Hintergrundgespräche zu führen. Und ebenso gibt es auch die Europäische Blindenunion, die hier aktiv ist. Leider entwickeln hier die großen Wirtschaftsunternehmen natürlich, das wird niemanden wundern, die meiste Power und stellen für ihre Lobbyarbeit dann auch ganz erhebliche Summen zur Verfügung. Was Behindertenverbände naturgemäß nicht können.
Wolfgang Haase, Externer Berater
00:18:24
Du hattest bisher die Richtlinie zu barrierefreien Websites und mobilen Anwendungen öffentlicher Stellen hervorgehoben. Gibt es denn noch weitere Akte der EU im Bereich IT für Menschen mit Beeinträchtigungen?
Uwe Boysen, ehem. Richter und Vorstand des DVBS
00:18:37
Ja, hier kann man noch eine ganze Reihe, einen ganz bunten Strauß von Vorschriften benennen, die für unseren Personenkreis in diesem Zusammenhang von Bedeutung sind. Ich nenne mal die Verordnung über die Vergabe öffentlicher Aufträge. Das ist umgesetzt worden in deutsches Recht im Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen GWB. Dann gibt es die eIDAS-Verordnung, das ist Electronic Information and Identifikation ... Ich kriege es nicht mehr genau zusammen. Das ist umgesetzt im" Vertrauensdienstegesetz". Dabei geht es darum, wie es möglich gemacht werden kann, dass wirklich ein Aussteller einer Erklärung identifiziert werden kann. Früher gab es dafür das sogenannte Signaturgesetz und jetzt gibt es das Vertrauensdienstegesetz. Und in diesen Dingen wird auch jeweils auf Barrierefreiheit Bezug genommen. Also die EU-Verordnung enthält das und deswegen musste das dann auch sowohl ins Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen wie auch ins Vertrauensdienste- gesetz übernommen werden. Und nicht zuletzt gibt es den European Accessibility Act, der gerade durch das sogenannte Barrierefreiheitsstärkungsgesetz in deutsches Recht umgesetzt werden soll. Aber darüber werden wir bei einer späteren Folge dieses Podcasts noch sprechen. Und teilweise gibt es für diese Verordnungen und Richtlinien auch noch weitere Rechtsakte der EU, wie beispielsweise bei der Webseitenrichtlinie. Da wird zum Beispiel durch einen EU Rechtsakt geregelt, wie die Prüfung von Webseiten zu erfolgen hat, die auch in dieser Richtlinie und im deutschen Umsetzungsphasegesetz tatsächlich vorgesehen ist.
Wolfgang Haase, Externer Berater
00:20:43
Ganz ehrlich, wenn ich das alles so höre, stoßen da Unternehmen nicht schnell an ihre Grenzen. Also wenn sie all das beachten sollen oder müssen sogar.
Uwe Boysen, ehem. Richter und Vorstand des DVBS
00:20:52
Das ist tatsächlich auf den ersten Blick so. Aber man sollte nicht vergessen, dass der Markt für Menschen mit einer Beeinträchtigung gerade in der EU doch relativ groß ist und für mittlere und kleine Unternehmen, denke ich, auch durchaus interessant sein kann, sich dieser Personengruppe irgendwie anzunähern. Immerhin erklärt die EU-Kommission, dass ein Sechstel der Bürgerinnen und Bürger in der EU eine Beeinträchtigung haben. Und da kann es sich daneben schon lohnen, tatsächlich sich um diese Dinge zu kümmern, glaube ich. Hinzu kommt, dass es gerade was Barrierefreiheit angeht, inzwischen auch vielfältige Angebote und Tutorials und ähnliche Dinge gibt, die darüber informieren, wie sich beispielsweise digitale Barrieren vermeiden lassen bzw. umgekehrt und positiv formuliert, wie sich digitale Barrierefreiheit umsetzen lässt. Zentral ist und bleibt aber bei all diesen Dingen auch eine vernünftige Sensibilisierung für die Bedürfnisse von Menschen mit Beeinträchtigungen, die auch für Unternehmen tatsächlich eine wertvolle Bereicherung ihres Portfolios sein kann.
Wolfgang Haase, Externer Berater
00:22:20
Uwe, ich danke dir vielmals für diesen doch schon recht tiefen Einblick und freue mich auf eine Fortsetzung hier auf diesem Kanal. Vielen Dank!
Uwe Boysen, ehem. Richter und Vorstand des DVBS
00:22:31
Ja, vielen Dank und alles Gute.
Nadia David, iDESkmu
00:22:37
Sie erhalten nun die Antwort auf die Frage aus der letzten Episode. Die UN-Behindertenrechtskonvention besagt, dass IT für Menschen mit Beeinträchtigung zugänglich sein muss. Welche Auswirkungen hat das auf einen IT Arbeitsplatz in Deutschland? In unserem ExpertenTalk wurde darüber diskutiert. Étienne Meyer zu Ahle, Social Media Manager im Projekt iDESkmu, beantwortet die Frage für Sie.
Étienne Meyer zu Ahle, Social Media Manager iDESkmu
00:23:02
Die UN-Behindertenrechtskonvention ist maßgeblich für den deutschen Gesetzgeber, der sie umsetzen muss. Das bedeutet, dass die Inhalte der UN-Behindertenrechtskonvention sehr wohl bindenden Charakter haben für die Gestaltung eines IT- Arbeitsplatzes in Deutschland.
Nadia David, iDESkmu
00:23:17
Und wir kommen zu der Frage, die wir Ihnen in der nächsten Episode beantworten werden. Die Kriterien zur Identifikation und Beurteilung der IT Barrierefreiheit einer Software sind vielfältig. Auf welche Weise lässt sich eine erste Einschätzung über die Barrierefreiheit einer Software durchführen? Antwort A: Accessibility von Software ist ein komplexes technisches Thema. Eine Beurteilung der Barrierefreiheit erfordert daher immer einen geeigneten Test, zum Beispiel den BITV-Test, den BITI-Anwendungstest und der muss zwingend von Experten durchgeführt werden. Antwort B: Accessibility von Software betrifft die technische Zugänglichkeit. Eine Beurteilung ist nur anhand des BITI-Anwendungstests bzw. des BITV-Tests möglich. Die Anwendung ist für jeden IT-Spezialisten problemlos möglich. Antwort C: Auch wenn Accessibility von Software ein komplexes Thema ist, lässt sich eine erste Beurteilung der Barrierefreiheit auch von Laien ohne technische Vorkenntnisse erreichen. Die Handreichungen zur Identifikation von Software-Accessibilitymängeln in der Praxis von iDESkmu bietet dafür einen guten Einstieg. Kommen wir zu unserem zweiten ExpertenTalk heute.
Detlef Girke, Externer Berater
00:24:40
, Externer Berater>Detlef Girke mein Name. Ich bin Mitarbeiter im Projekt iDESkmu, zuständig für die technische Leitung. Und heute sitzt mit mir im Remote Studio über eine Online Verbindung Herr Dr. Joachim Voss, einer der Geschäftsführer der Firma Scientec. Erzählen Sie doch mal ein bisschen über Ihre Firma. Wie sind wir, damit überhaupt verständlich ist, wie wir auf Sie gekommen sind.
Dr. Joachim Voss, Scientec Internet Applications & Media GmbH
00:25:05
Die Firma Scientec wurde 1997 gegründet von mir und einem Kollegen. Wir haben also seit 97 begonnen, rein Browser gestützte Applikationen zu bauen für Kunden. Content Management Systeme - wir hatten eines der ersten in Hamburg. Dazu gehört dann auch die Entwicklung barrierefreier Webseiten, die Umstellung auf Barrierefreiheit. Und in dem Zusammenhang haben wir dann ja auch über einen gemeinsamen Kunden uns gegenseitig kennengelernt.
Detlef Girke, Externer Berater
00:25:41
Ich weiß gar nicht, wie viele Jahre das jetzt schon sind, aber es sind, glaube ich, sicher schon drei Jahre, die wir regelmäßig zusammenarbeiten. Sie kommen auf mich zu, fragen mich, wie würden Sie das realisieren? Oder hätten Sie da eine Idee zu?
Dr. Joachim Voss, Scientec Internet Applications & Media GmbH
00:25:54
Ja, und dann gebe ich meinen Input und dann fangen Sie an, an den Skripten zu arbeiten. Und das ist richtig. Es ist wohl leider bei der Uni so, dass die Überlegung, wann man mit der Barrierefreiheit beginnt, die kam relativ spät, sodass eine fertige Webseite schon vorhanden war. Man hätte vielleicht früher beginnen sollen, dann hätten wir bei der Entwicklung schon Dinge berücksichtigen können, die uns schon bekannt waren. Damit der Prozess des Testens, des Reparierens nicht so langwierig wird, wie er dann am Ende doch bei einer so großen Webseite auch landen wird. Das ist ein ganz übliches Phänomen und die Erfahrung machen alle irgendwann einmal. Also so kommt es mir zumindest vor. Und jetzt hat die Uni Hamburg und Sie eben auch dann gleichzeitig genau diese Erfahrung auch gemacht. Wenn man Barrierefreiheit von vornherein mitdenkt, dann wird es erstens einfacher und zweitens natürlich damit im Zuge dessen auch preiswerter für den Auftraggeber. Trotzdem, man wird denke ich, auch zukünftig nicht umhinkommen, die Aufgaben arbeitsteilig anzugehen. Selbst wenn Entwickler, so wie wir schon einiges an Erfahrung jetzt gesammelt haben mit der Thematik. Die Gerätschaften zu kennen, die man braucht, um einen solchen Test durchzuführen, erfordern auch schon so ein Expertenwissen, dass es, denke ich aus meiner Sicht, in der Regel so sein wird, dass man Entwickler hat, Tester hat, dass man beginnt, rechtzeitig bei der Entwicklung schon zusammenzuarbeiten, aber immer einen abschließenden Test auch haben wird, der dann natürlich auch unabhängig sein soll und einem Auftraggeber dann ein Zertifikat liefert, was auf der Webseite dann auch gezeigt werden kann.
Detlef Girke, Externer Berater
00:27:58
Genau! Oder ein Statement, ein entsprechendes. Aber das bringt uns genau in die richtige Richtung jetzt gerade schon. Ich finde das auch gut, das arbeitsteilig zu machen, weil niemand kann Experte für alles gleichzeitig sein. Und ich habe damit auch gute Erfahrungen gemacht, dass ich dann eben auf die Art und Weise meine Expertise mit einbringe und wir dann ja mit einem gewissen Abstand auf jeden Fall irgendwie eine Art von Teamwork betreiben. Und das, was ich dann natürlich auch mit einbringe, ist ja ein profundes Wissen über das, was die Regelungen, Standards, Normen und so weiter eben fordern. Und an vorderster Stelle steht dann natürlich die BITV 2.0, die jetzt ja in 2019, also vor genau zwei Jahren oder ziemlich genau zwei Jahren eine Novelle erfahren hat und über die der EU Standard EN 301 549 zur Anwendung kommt. Und darüber fiel mir jetzt auf, Sie haben jetzt noch eine Richtlinie entdeckt, die 219 882, die ja schon vorausgreift sozusagen auf den European Accessibility Act, der mal so richtig in Kraft tritt erst in 2025. Können Sie dazu was sagen - zu Ihrer Entdeckung?
Dr. Joachim Voss, Scientec Internet Applications & Media GmbH
00:29:21
Die Information, dass es das gibt, hatte mich tatsächlich bis gestern noch gar nicht erreicht. Ich war überrascht, dass diese Richtlinien, die wir ja jetzt von den Forderungen an Webseiten und Geräte im öffentlichen Bereich gelten, dass diese auch ausgeweitet werden auf den nicht öffentlichen Sektor. Und das betrifft natürlich insbesondere auch viele Kunden von uns, die davon, wie ich mich auch inzwischen vergewissert habe, nichts wissen. Dass Webseiten zum Beispiel von Online-Shops ab Mitte 2025 bei einer Neuaufstellung barrierefrei ausgeführt werden müssen. Es gibt sicherlich Übergangsfristen wie bei den öffentlichen Anbietern, wo bestehende Webseiten und neue Webseiten unterschiedlich gehandhabt wurden. Aber es ist klar, im Jahre 2025 wird auf nicht öffentliche Anbieter etwas zukommen. Das gilt dann auch für Händler. Dass diese Regelung auch für Software-Hersteller gilt, das war schon durchgesickert. Dass man also Content Management Systeme, andere Systeme, die als Arbeitsmittel eingesetzt werden sollen, dann auch barrierefrei den Firmen zur Verfügung stellen muss. Aber hier wird sicherlich eine Überraschung auftreten bei vielen Anbietern, die davon in diesem Moment noch nichts wissen. Ich würde mir wünschen, dass in der Richtung schnell und positiv informiert wird, damit wir nicht Verwerfungen haben, wie es sie bei der DSGVO gab, die für sehr viel Ärgernis gesorgt hat.
Detlef Girke, Externer Berater
00:31:21
Ja, das hätte ich jetzt auch erwähnt. Und im Grunde trägt uns das direkt auch zum nächsten Thema. Natürlich, es gibt die ganzen Verordnungen, es gibt die Regelungen und Standards, aber das muss ja auch irgendwie überprüft werden. Und dafür gibt es ja zum Beispiel den BITV-Test. Es gibt natürlich noch viele andere Tests. Ich setze zum Beispiel sehr viel den BITV-Softwaretest ein. Und das, was wir anfangs gemacht haben, 2003, als der BITV-Test in seiner ersten Version entwickelt wurde: Wir haben hier richtig akquiriert. Wir haben potenzielle Kunden angerufen und denen gesagt, Sie sind eigentlich verpflichtet, barrierefrei zu werden. Das dauert zwar noch ein bisschen, aber je eher Sie vorbereitet sind, desto besser. Und wir hätten hier einen Weg für Sie. Wenn ich mir angucke, so während der Entwicklung so Standardinhalte zu prüfen und für Sie auch zu überarbeiten - seien es Texte, Bilder, Navigation und so weiter - das ist ja wenig Aufwand. Aber es gibt ja auch komplexere Inhalte, die einen großen Mehraufwand verursachen, gerade dadurch, dass man eben mit JavaScript zwar viel machen kann, aber die Scripte auch sehr geschickt aufgebaut sein müssen, damit sie wirklich so funktionieren, dass das später der Dom Baum, der dadurch erzeugt wird, wirklich auch mit der Accessibility API eben des Betriebssystems perfekt kommunizieren kann. Das hatte ich jetzt gerade schon gesagt. JavaScript oder auch das Beispiel Videoeinbindung. Da haben Sie sicherlich auch einige Erfahrungen. Können Sie davon ein bisschen erzählen?
Dr. Joachim Voss, Scientec Internet Applications & Media GmbH
00:33:01
Ja, es ist natürlich so, dass Standardseiten, die im Wesentlichen statische Inhalte haben, also Texte und Bilder, sind vom Aufwand während der Entwicklung relativ niedrig. Auf der anderen Seite werden Webseiten immer komplizierter. Das wird durch komplizierte Benutzerführung oder komplizierte Widgets getrieben, die man überhaupt in die Seite nur mit JavaScript hineinbringen kann / erzeugen kann. Und nur mit JavaScript selbst kann man die damit entstandenen Probleme auch wieder lösen. Das kann je nach Anforderung eines Kunden recht komplex werden, weil man es im Vornherein schwer absehen kann, wenn sich die Anforderungen zum Beispiel ändern. Es gibt aber auch Dinge, die man erwarten würde, dass sie nativ funktionieren, wie zum Beispiel die Einbindung von Videos ist seit HTML5 sehr einfach technisch zu machen über einen Video-Tag. Leider ist die Oberfläche, die dadurch im Browser entsteht, nicht barrierefrei.
Detlef Girke, Externer Berater
00:34:12
Sie hatten in unserem Vorgespräch zum Beispiel auch Kalender-Widgets erwähnt.
Dr. Joachim Voss, Scientec Internet Applications & Media GmbH
00:34:17
Man kann über über HTML Bordmittel einen Kalender verwenden in Formularen, das ist ein einfaches Input-Feld. Das ist aber erstens mal über die verschiedenen Browser hinweg lieblos gestaltet und bietet dann nicht die Funktionen, die man will. Also Vorbesetzungen, bestimmte Navigation im Kalender. Da möchte ein Auftraggeber dann etwas Schickes, sieht etwas auf irgendeiner Webseite im Internet und sagt, genau so soll es sein. Als Entwickler muss man dann ja im Grunde genommen vorab wissen, ob das am Ende den BITV-Test besteht oder nicht, weil sonst baut man es ein, es wird getestet und muss wieder raus und es muss neu gebaut werden. Also man muss das Wissen haben. Man muss es diesen Skripten ansehen, was sie produzieren und dass es so nicht geht. In der Regel findet man solche Skripte kostenlos im Internet. Der Quelltext ist verwendbar, aber wenn eine Extrawurst gebraten werden muss, dann möchte man nicht diesen fremden Code bearbeiten. Das heißt es wird aufwendig, weil man entweder fremden Code ändert oder neuen aufbaut.
Detlef Girke, Externer Berater
00:35:33
Ja, und vor allen Dingen nur mit Code und dem Aufzeigen, das und das und das müsste darin geändert werden. Damit kann man da sicherlich nicht Anbieter oder potenzielle Kunden für das Thema Barrierefreiheit gewinnen oder denen die Notwendigkeit der Barrierefreiheit ins Bewusstsein rufen. Dafür braucht man sicherlich einfachere Beispiele. Wie sind diesbezüglich so Ihre Erfahrungen aus der Vergangenheit? Und was ändert jetzt zum Beispiel diese EU-Richtlinie 2019 882 bei dieser Strategie oder an dieser Strategie?
Dr. Joachim Voss, Scientec Internet Applications & Media GmbH
00:36:09
Ja, ich denke, das ... Ich sehe das zwiespältig. Es gibt Anwendungen, bei denen jeder sofort einsieht, dass man dafür sorgen muss, dass sie barrierefrei sind, also Fahrkartenautomaten oder Webseiten, auf denen man Fahrkarten kauft oder Apps oder Banking Terminals. Ist vollkommen klar, dass das von allen Menschen genutzt werden können muss. Ich kenne persönlich Leute, bei denen die Bank im Ort - da sind keine Menschen mehr, die helfen können - die können das Terminal nicht bedienen. Die fahren mit dem Auto in den Nebenort, weil dort in der Filiale noch Menschen sind, die ihnen helfen können. So was ist natürlich ... Dass ist ein Unding, dass muss behoben werden.
Detlef Girke, Externer Berater
00:36:59
Ein blinder Mensch könnte eben nicht mit dem Auto in den Nebenort fahren.
Dr. Joachim Voss, Scientec Internet Applications & Media GmbH
00:37:02
Das kommt noch dazu. Es ist ja absurd, dass die Menschen ... - Auto fahren können sie noch, aber diese Geräte sind so kompliziert, dass sie sie nicht bedienen können. Bei anderen Anwendungen sehe ich das weniger kritisch. Einen Onlineshop muss man nicht aufsuchen, denn den möchte man aussuchen. Das hat eine andere Qualität. Da wäre ich nicht so streng. Da halte ich es natürlich auch für sinnvoll, hätte aber das Gefühl, dass das Ganze schon auch marktgetrieben sich in die richtige Richtung entwickelt. Denn Google drängt auf Dinge, die in Richtung Barrierefreiheit gehen. Das ist erst mal, dass es auf allen Geräten funktioniert. Jetzt ist Performance ein wichtiger Punkt. Es muss also auch schnell gehen. Wer ein altes Gerät hat oder eine schlechte Internetanbindung muss eine Seite ebenfalls aufrufen können und nutzen können, das ist auch Barrierefreiheit. Das geht aber alles über die Rankings in den Suchmaschinen letztlich so ein, dass die Betreiber am Umsatz spüren, dass Handlungsbedarf ist. Das heißt, wir haben über diesen Umweg eine permanente Verbesserung von Webseiten. Das wird auch nicht stehen bleiben. Allerdings ist Accessibility kein expliziter Prüfpunkt, zum Beispiel bei Google. Das ist überraschend, weil die haben Tools, die das suggerieren, dass es so wäre. Aber tatsächlich ist es nicht so. Sie bewerten das durchschnittliche Nutzerverhalten. Sie bewerten also unterschiedliche Nutzergruppen nicht unterschiedlich stark gewichtet. Wenn also eine Webseite eine schlechte Usability hat, dann wird Google sie schlechter bewerten, weil Google merkt, dass die Nutzer diese Webseite nicht mögen, weil sie aus den Suchergebnissen kommen, klicken und wieder zurückkehren, weil sie sich nicht zurechtfinden. Es ist also eine indirekte Messung von Accessibility - nicht direkt. Ich glaube kaum, dass man einen üblichen Online-Shop Betreiber, so wie ich ihn kenne, dazu bringen kann, jemals bei Ihnen einen Workshop zu besuchen, um sich sensibilisieren zu lassen. Das kommt denen gar nicht in den Sinn.
Detlef Girke, Externer Berater
00:39:26
Oh, ich kannte mal einen. Aber es war wirklich ein einziger in zehn Jahren.
Dr. Joachim Voss, Scientec Internet Applications & Media GmbH
00:39:31
Ja, ich sage dann immer Gaußsche Glockenkurve. Es gibt natürlich immer die Ausläufer an den Seiten, es gibt immer Ausnahmen, aber im Mittel haben die den Antrieb nicht. Sobald jemand nicht betroffen ist, ist es schwierig für ihn, die Probleme anderer zu erkennen. Und es ist bei Barrierefreiheit besonders schwierig, weil man es einer Webseite nicht ansieht, ob sie barrierefrei ist. Ansehen in Anführungszeichen. Ein Nutzer, der perfekt mit der Maus zurechtkommt, merkt nicht, dass er die Seite auch sich vorlesen lassen könnte. Das ... Auf die Idee würde er nicht kommen. Er benutzt auch vielleicht in Formularen mal die Tab-Taste, aber auch ganz selten. Das heißt, wie soll jemand bereit sein, eine Investition zu tätigen in seine Webseite, wenn er es dieser Seite im Nachgang noch nicht einmal ansieht, dass sich etwas getan hat? Es ist also tatsächlich sehr schwierig, Menschen zu sensibilisieren, sich um etwas zu kümmern, von dem sie nicht betroffen sind, wo sie aber auch die Verbesserung gar nicht unmittelbar sehen. Man sollte die Vorteile an geeigneter Stelle hervorheben. Ich stelle mir irgendeine Art von neutralem Portal vor, was vielleicht tatsächlich von einer staatlichen Stelle betrieben wird, wo das beschrieben wird. Und zwar so verständlich, dass Leute, die sich mit der Thematik bisher nicht beschäftigt haben, das verstehen und nachvollziehen können. Insbesondere vielleicht einmal dafür sorgen, dass man Dinge jetzt wieder (in Anführungszeichen) sichtbar macht, die nicht funktionieren, damit man als gut sehender Mausbenutzer überhaupt mal kapiert, wo das Problem ist. Also das, was Sie in Ihren Workshops machen, vielleicht auf einer Internetseite, die das mal demonstriert. Vielleicht sollte man auch darüber hinaus, dass man über diese Richtlinie oder dann später das Gesetz Druck ausübt, ein Belohnungssystem einführen. Ich stell mir etwas vor wie eine Abwrackprämie für alte Webseiten, wenn sie, falls sie neu aufgebaut werden, dann barrierefrei sind. Es ist ja - wir haben jetzt nicht über Geld gesprochen - so ein BITV-Test ist für einen kleinen Onlineshop-Betreiber ja durchaus eine Investition. Und wenn man dort - das kann man ja auch in Abhängigkeit von der Größe machen, also es muss Amazon nicht unbedingt dann eine Abwrackprämie bekommen. Das könnte man ja auch staffeln wie bei Autos, dass eben die Kleineren, dass man den Kleineren hilft, sinnvolle Dinge zu tun, um es einfach voranzubringen in breiter Front und nicht nur so punktuell. Einen wichtigen Punkt hätte ich natürlich gerne noch untergebracht: Qualitätssicherung. Diese ganzen Tests, das ist ja immer punktuell.
Detlef Girke, Externer Berater
00:42:42
Ja.
Dr. Joachim Voss, Scientec Internet Applications & Media GmbH
00:42:43
Ich sehe jetzt bei der Uni, also alleine zwischen dem Zeitpunkt, wo Sie das erste Mal getestet haben und dann vielleicht noch mal testen, was in der Zeit schon wieder alles passiert ist und alles ungetestet. Das geht dann sozusagen alles immer auf meine Kappe. Und ich sage, ja, das haben wir schon alles richtig gemacht. Man kann ja nicht permanent testen. Und mal angenommen, es gäbe so etwas wie ein Zertifikat oder ein offizielles Siegel. Der Test ist ja, das ist ja keine offizielle Veranstaltung. Im Grunde genommen auch privatwirtschaftlich alles. Also wenn man sich vorstellen würde, es gäbe so etwas wie ein Webseiten-TÜV, der müsste ja bei der Entwicklung von Webseiten bei der Geschwindigkeit vierteljährlich stattfinden. Und bei der Anzahl von Seiten einer Uni oder irgendeiner anderen Einrichtung müssten ja streng genommen 100 Seiten getestet werden, damit man sich auch wirklich sicher ist, denn überall poppen Sachen auf. Das ist gerade heute wieder funktionierte bei der Uni eine Seite nicht, weil jemand es geschafft hat, in seinem Inhaltsbereich (ganz kleiner eingeschränkter Bereich) hat er ein JavaScript eingeschleust und die gesamte Seite war dadurch kaputt. Das kann man nicht durch einen singulären Testzeitpunkt aufhalten solche Entwicklung, das heißt, man muss parallel als eine Einrichtung wie eine Uni mit vielen Redakteuren und vielen Seiten eine permanente Qualitätssicherung haben. Durch einen Mechanismus, der im Hintergrund automatisch abläuft und mindestens das testet, was man automatisch testen kann. Auch noch so'n Punkt - dieses manuelle, automatische Testen. Aber ich denke, automatisierte Tests im Hintergrund sind essenziell.
Detlef Girke, Externer Berater
00:44:35
Ok, so viel also auch noch mal zum Thema Qualitätssicherung. Und jetzt das ganze zusammen mit dem Thema Abwrackprämie und so weiter bringt wirklich auch noch mal neue Aspekte in die ganze Thematik. Wie kann ich Barrierefreiheit wirklich vermitteln? Wie kann ich angemessen sensibilisieren und wie kann ich am Ende wirklich sicherstellen, dass es auch barrierefrei bleibt? Ich stimme Ihnen da zu. Automatisierte Tools sind wahrscheinlich ein Weg, um den wir nicht herumkommen. Sie entwickeln so ein Tool oder haben das bereits entwickelt. Ich kenne andere Firmen, die auch dabei sind, das zu entwickeln. Und ja, ich denke, darin liegt die Zukunft.
Detlef Girke, Externer Berater
00:45:16
Herr Dr. Voss, ganz, ganz vielen Dank für das Gespräch!
Dr. Joachim Voss, Scientec Internet Applications & Media GmbH
00:45:20
Ja, vielen Dank! Es hat sehr viel Spaß gemacht und ich freue mich auf die fruchtbare Zusammenarbeit, die wir hoffentlich in Zukunft auch haben werden.
Detlef Girke, Externer Berater
00:45:28
Vielen herzlichen Dank!
Nadia David, iDESkmu
00:45:32
Das Team von iDESkmu bedankt sich bei Uwe Boysen und Joachim Voss für die Unterstützung des Projektes durch ihre Beiträge. Hier nochmals der Hinweis auf unsere Shownotes. Sie finden dort neben den Hintergrundinformationen zu unseren Gesprächspartnern grundsätzlich umfangreiche Quellenangaben und Tipps rund um die Beiträge und Themen dieser Episode. In der nächsten Episode diskutiert Detlef Girke, externer Berater im Projekt iDESkmu, mit Anne-Marie Nebe der T-Systems Multimedia Solutions GmbH, über Kriterien für die Standard- konformität von DMS und ECMS. Detlef Girke spricht anschließend auch mit Professor Dr. Erdmuthe Meyer zu Bexten, Leiterin der Durchsetzungs- und Überwachungsstelle für barrierefreie IT beim Regierungspräsidium Gießen, über das Thema Arbeit 4.0. Lernen Sie uns noch besser kennen und besuchen Sie unsere Webseite unter www.projekt-iDESkmu.de. Sind Fragen offen geblieben oder haben sich neue Fragen für Sie ergeben? Dann senden Sie uns eine Nachricht! Wir freuen uns darauf. Das war die Episode #06 der Podcastserie KLARTEXT FÜR IT OHNE BARRIEREN zu dem Projekt iDESkmu. Mein Name ist Nadia David. Vielen Dank für Ihr Zuhören!