Recht Kurz

Dr. Marcus Georg Tischler & Tim Petermann
Since 04/2020 59 Episoden

Folge059: Mündlichkeitsgrundsatz

28.11.2024 12 min

Zusammenfassung & Show Notes

In der heutigen Folge 098 von „RECHT kurz“ beschäftigen sich Tischler und Petermann mit einem spannenden juristischen Verfahrensgrundsatz, dem Mündlichkeitsgrundsatz. Ist Schreiben Silber und Reden Gold? Oder stimmt das gar nicht? Warum ist der Mündlichkeitsgrundsatz so wichtig für ein transparentes und faires Gerichtsverfahren? Dies und mehr erfahren Sie bei „RECHT kurz“.

Transkript

Moin und herzlich willkommen bei Recht kurz. Moin Markus.
Marcus
00:00:23
Hi Tim, grüß dich.
Tim
00:00:25
Markus, hast du uns ein Thema mitgebracht?
Marcus
00:00:27
Ja, aber ganz, ganz anderes heute. Der Mündlichkeitsgrundsatz, Tim.
Tim
00:00:32
Der Mündlichkeitsgrundsatz.
Marcus
00:00:34
Was verstehst du darunter?
Tim
00:00:36
Wir sind also im Prozessrecht, ja. Der Mündlichkeitsgrundsatz ist ein grundlegendes Prinzip des deutschen Rechtssystems. Er besagt, dass alle wesentlichen Verfahrensschritte und Entscheidungen im Rahmen eines Rechtsstreits, eines Gerichtsprozesses in einer mündlichen Verhandlung erörtert und getroffen werden müssen.
Marcus
00:00:55
Und dazu gehören die Erörterung der Sach- und Rechtslage, die Vorstellung der Beweisanträge und die Beweisaufnahme einschließlich der Vernehmung von Zeugen und zum Beispiel Sachverständigen.
Tim
00:01:08
Genau. Der Mündlichkeitsgrundsatz steht nicht alleine, er ist mit anderen sogenannten Verfahrensgrundsätzen verknüpft.
Marcus
00:01:14
Da gibt es noch den Grundsatz der Öffentlichkeit. Dieser ist im Grunde durch ein mündliches Verfahren eben gewährleistet. Dann gibt es auch noch den Unmittelbarkeitsgrundsatz. Tim, was macht der denn? Oder besagt?
Tim
00:01:30
Das Prinzip der Mündlichkeit kommt eben durch den Unmittelbarkeitsgrundsatz zum Ausdruck. Der besagt nämlich, dass mündliche Verhandlungen vor dem erkennenden Gericht stattfinden müssen. Also vor dem Gericht, das am Ende auch die Entscheidung fällt.
Marcus
00:01:44
Und möglicherweise auch der Richter, der die Entscheidung fällt. Aber das wäre jetzt vielleicht schon zu verästelt, um den Unterschied zwischen Zivilrecht und Strafrecht hier zu erklären.
Tim
00:01:53
Okay, bleiben wir im Zivilrecht. Man muss vielleicht noch erwähnen, dass der Mündlichkeitsgrundsatz eben auch Ausdruck des grundrechtlich geschützten Anspruchs auf rechtliches Gehör vor einem Gericht ist.
Marcus
00:02:05
Genau, und aufgrund der enormen Bedeutung des Mündlichkeitsgrundsatzes stellt ein Verstoß gegen diesen grundsätzlich auch einen wesentlichen Verfahrensmangel dar, der insbesondere durch Rechtsmittel wie etwa Berufung, aber möglicherweise eben auch noch später die Revision im Zivilrecht geltend gemacht werden kann.
Tim
00:02:23
Also halten wir fest, Mündlichkeitsgrundsatz ist ein wichtiger Verfahrensgrundsatz des deutschen Prozessrechts. Du sagst heute, warum heute? Früher war es nämlich auch mal ganz anders.
Marcus
00:02:36
Ja, gehen wir mal ein paar Jährchen zurück. Im damaligen preußischen Recht galt nämlich ursprünglich das genaue Gegenteil, der Schriftlichkeitsgrundsatz.
Tim
00:02:44
Und der besagte, dass eben nur schriftliche Unterlagen zur Urteilsfindung berücksichtigt werden durften. Das Prinzip dazu, ich will es jetzt nicht auf Lateinisch wiederholen, besagt aber im Grunde, was nicht gelesen wird, wird auch nicht geglaubt.
Marcus
00:02:59
Also was nicht in den Akten steht, existiert auch nicht in der Welt.
Tim
00:03:04
Sozusagen, genau. Gerichtsverfahren wurden also damals auf der Grundlage nur schriftlicher Dokumente geführt.
Marcus
00:03:09
Okay, dann werden wir mal historisch. Also unter dem Einfluss des napoleonischen Code de Procedure Civile, also ich bin kein französisch sprechender Mensch.
Tim
00:03:20
Wäre mir gar nicht aufgefallen, Markus.
Marcus
00:03:21
Von 1806 wurde mit dem Inkrafttreten der Reichsjustizgesetze im Jahr 1879 die Gerichtsverhandlung in mündlicher Form in das preußische Recht übernommen, was dann zu einer stärkeren Betonung der mündlichen Verhandlung als zentralem Element des Verfahrens im preußischen Recht führte.
Tim
00:03:40
Und erst einige Zeit später, das war so Anfang der 1920er Jahre, wurde im Rahmen der sogenannten Emminger Novellen wiederum die Bezugnahme auf Anträge und Schriftsätze in der mündlichen Verhandlung ebenfalls möglich gemacht. Das bedeutete, dass neben der mündlichen Verhandlung auch schriftliche Anträge und Unterlagen berücksichtigt werden können. Und so ist es ja heute noch.
Marcus
00:04:01
Genau, die Emminger Novellen zielen eben darauf ab, dass Gerichtsprozesse effizienter zu gestalten sind. Dazu legten diese Novellen einen Wert auf eine gründliche und das bedeutet eben schriftliche Vorbereitung der Verhandlungen und die Fokussierung auf die wesentlichen Punkte. Dadurch sollte der Rechtsstreit nach schriftlicher Vorbereitung, so auch heute in der ZPO, in einem einzigen Haupttermin erledigt werden.
Tim
00:04:24
Das bedeutet letztlich, dass die schriftliche Vorbereitung der mündlichen Verhandlung trotz des eben geltenden Mündlichkeitsgrundsatzes ein wichtiges Element des deutschen Zivilprozesses ist. Da es eben dazu beiträgt, die Integrität und Effizienz des deutschen Prozessrechts sicherzustellen, indem eine strukturierte Vorbereitung eben der mündlichen Hauptverhandlung möglich ist.
Marcus
00:04:47
Bevor wir jetzt gleich mal zu der Bedeutung der mündlichen Verhandlungen kommen, muss man schon sagen, anders als möglicherweise in irgendwelchen Nachmittagsgerichtsshows, ist es schon so, dass im Wesentlichen, im Schriftlichen vorher die Rechtsstreitpunkte und auch der Sachverhalt ausgetauscht wird. Bedeutet auch, wenn sich ein Zuschauer in eine mündliche Verhandlung setzt, dann kann das sein, dass er gar nicht so viel mitkriegt, worum es eigentlich in dem Rechtsstreit geht.
Tim
00:05:10
Genau, weil das Wesentliche ist eben vorher schriftlich ausgetauscht worden. Dennoch, auch wenn eben viele Informationen schriftlich ausgetauscht wurden, bleibt die mündliche Verhandlung von großer Bedeutung, Markus.
Marcus
00:05:23
Stichwort Persönlichkeit. Die mündliche Verhandlung ermöglicht es den Parteien, ihre Argumente persönlich vorzutragen und auf die Argumente der Gegenseite zu reagieren. Dies ist besonders wichtig, da schriftliche Unterlagen nicht immer alle Nuancen und Details und erst recht keine Gefühle erfassen können.
Tim
00:05:39
Stichwort Glaubwürdigkeit. In der mündlichen Verhandlung können Zeugen und Sachverständige direkt befragt werden. Dies ermöglicht es dem Gericht, ihre Glaubwürdigkeit zu beurteilen und zusätzliche Informationen zu erhalten. Denn allein aus dem schriftlichen Vortrag lässt sich zu der Glaubwürdigkeit einer Person wenig entnehmen.
Marcus
00:05:58
Nochmal Stichwort Unmittelbarkeit. Der Mündlichkeitsgrundsatz gewährleistet die Unmittelbarkeit des Verfahrens. Das haben wir jetzt hinlänglich gehört. Bedeutet, der Richter kann die Parteien und auch Zeugen oder Sachverständige direkt sehen und hören, was häufig zu einer besseren Beurteilung führt.
Tim
00:06:14
Da sind wir beim nächsten Stichwort Klarheit. Denn selbst wenn im schriftlichen Vorverfahren bereits viel geschrieben wurde, können in der mündlichen Verhandlung immer noch möglicherweise offene Fragen geklärt werden. Auch das kann dazu beitragen, dass Missverständnisse rein aus dem schriftlichen Vortrag vermieden werden und eine fundierte Entscheidung getroffen werden kann.
Marcus
00:06:35
Genau, dann bleibt noch das Stichwort Fairness. Die mündliche Verhandlung bietet grundsätzlich allen Parteien die gleiche Gelegenheit, ihre Position vor dem Richter oder Richterin vorzutragen. Dies trägt naturgemäß zur Fairness des Verfahrens.
Tim
00:06:48
Und damit kein falscher Eindruck entsteht, der in sich Zweifel zu vermeiden, es ist jetzt nicht so und das heißt der Mündlichkeitsgrundsatz bedeutet nicht, dass all das, was schriftlich vorgetragen wurde, in teilweise recht langen Schriftsätzen dann in der mündlichen Verhandlung nochmal vorgelesen werden muss. Wir hatten es gerade bei den Emminger Novellen, in der mündlichen Verhandlung kann eben auch und wird in aller Regel auch zum Großteil Bezug auf das schriftliche Vorverfahren genommen.
Marcus
00:07:14
Im Zivilrecht muss auch ein zum Beweis eingeholtes Sachverständigengutachten nicht mündlich vorgetragen werden oder verlesen werden.
Tim
00:07:21
Es ist eben durchaus nicht unüblich, dass wenn noch offene Fragen sind beim schriftlichen Sachverständigengutachten, dass das Gericht dann eben auch den Sachverständigen zur mündlichen Verhandlung lädt, damit der sein schriftliches Gutachten noch einmal mündlich erläutern kann und eben auf Nachfragen des Gerichts und oder der Parteien reagieren kann.
Marcus
00:07:41
Genau. Wie lange dauert denn jetzt dieses schriftliche Vorverfahren, das ja die mündliche Verhandlung vorbereitet, Tim?
Tim
00:07:47
Ja, das fragst du mich, das weißt du doch selber ganz genau. Das kann man natürlich nicht sagen. Es hängt von verschiedenen Faktoren ab, Markus. Nämlich?
Marcus
00:07:55
Naja, wie komplex der Fall ist und auch die Bereitschaft der Parteien zur Zusammenarbeit und die Arbeitsbelastung der Gerichte und auch die möglicherweise vielen Fristverlängerungen, die die Rechtsanwälte beantragen, um sich mit der Mandantin oder Mandanten abzustimmen. In der Regel dauert es einige Wochen bis einige eher Monate. Wenige Wochen werden da nicht ausreichen.
Tim
00:08:14
Genau. Es sind also die individuellen Umstände des Verfahrens. Es gibt jetzt keine Regelung in der ZBO, dass irgendwo steht, das schriftliche Vorverfahren dauert drei, vier, fünf oder sechs Monate.
Marcus
00:08:24
Es gibt aber auch die Möglichkeit, dass das schriftliche Verfahren sozusagen abgekürzt wird oder nicht stattfindet und das Gericht stattdessen einen sogenannten frühen ersten Termin anberaumt. Tim, was hat das möglicherweise für Gründe?
Tim
00:08:38
Naja, der frühe erste Termin und damit der Verzicht auf das schriftliche Vorverfahren kann im Einzelfall der Beschleunigung des Verfahrens dienen.
Marcus
00:08:47
Ja, er bietet auch die Möglichkeit zu einer gütlichen Einigung, obgleich die gütliche Einigung auch jederzeit im schriftlichen Vorverfahren möglich ist.
Tim
00:08:54
Genau, und ja, durch eine Beschleunigung des Verfahrens und die Möglichkeit einer frühen Einigung können die Parteien natürlich auch erhebliche Kosten sparen, die ansonsten mit einem langwierigen Gerichtsverfahren verbunden werden.
Marcus
00:09:06
Es gibt aber auch Kritikpunkte, unter anderem heißt es, dass der frühe erste Termin die Parteien möglicherweise unter Zeitdruck setzt, da nicht genügend Zeit bleibt, sich angemessen auf den Prozess vorzubereiten.
Tim
00:09:17
Das gilt insbesondere natürlich für den Beklagten, denn der Kläger entscheidet darüber, wann er die Klage einreicht und hat dementsprechend in der Regel so viel Vorbereitungszeit, wie er braucht und der Beklagte muss dann bis zu einem frühen ersten Termin in relativ kurzer Zeit seine Argumente sammeln, vorbereiten, die Beweise sammeln und dann alles im frühen ersten Termin parat haben, das kann mitunter schwierig sein.
Marcus
00:09:40
Genau, deshalb ist ein Kritikpunkt eben, dass der frühe erste Termin vielleicht zu einer Chancenungleich führt oder zu einem Ungleichgewicht und einer fehlenden Fairness.
Tim
00:09:49
Absolut und darüber hinaus ist es natürlich so, dass in besonders komplexen Fällen die mündliche Verhandlung im frühen ersten Termin eben möglicherweise nicht ausreicht, um auch alle relevanten Aspekte zu erörtern und dann eine fundierte Entscheidung zu treffen.
Marcus
00:10:03
Genau, deshalb hat das angerufene Gericht grundsätzlich die Vor- und Nachteile eines solchen frühen ersten Termins sorgfältig zu prüfen oder abzuwägen und dann eine Entscheidung zu treffen, die zugleich eine schnelle, effiziente und auch faire Verhandlung sicherstellt.
Tim
00:10:18
Absolut. Ungeachtet dessen, Markus, gibt es aber auch Situationen, in denen eine mündliche Verhandlung ganz entfallen kann.
Marcus
00:10:26
Ja, das ist insbesondere dann der Fall, wenn die Parteien des Rechtsstreits, also Kläger und Beklagter, auf die Durchführung der mündlichen Verhandlung verzichten.
Tim
00:10:34
Das können sie, denn es sind die Parteien letztlich, die das Verfahren bestimmen oder den Inhalt des Verfahrens bestimmen und deswegen übereinstimmend auf eine mündliche Verhandlung verzichten können. Andere Fälle, Markus?
Marcus
00:10:48
Ja, bei Kostenentscheidungen brauchen wir auch keine mündliche Verhandlung. Auch wenn ein Anerkenntnis außerhalb der mündlichen Verhandlung erklärt wird, ist eine mündliche Verhandlung nicht erforderlich. Und wenn eine der Parteien, meistens die beklagten Partei, einfach nicht erscheint, dann reden wir von einem sogenannten Versäumnisurteil.
Tim
00:11:05
Ganz genau.
Marcus
00:11:06
So, damit sind wir einmal durch.
Tim
00:11:08
Sind wir einmal durch.
Marcus
00:11:09
Durch den Mündlichkeitsgrundsatz.
Tim
00:11:10
Wunderbar. Wenn Fragen sind, sprechen Sie uns gerne an. Ansonsten danke fürs Zuhören, alles Gute und bis bald.
Marcus
00:11:16
Ciao.
Tim
00:11:17
Tschüss Markus.

2024 - Dr. Marcus Georg Tischler & Tim Petermann