Folge059: Mündlichkeitsgrundsatz
28.11.2024 12 min
Zusammenfassung & Show Notes
In der heutigen Folge 098 von „RECHT kurz“ beschäftigen sich Tischler und Petermann mit einem spannenden juristischen Verfahrensgrundsatz, dem Mündlichkeitsgrundsatz. Ist Schreiben Silber und Reden Gold? Oder stimmt das gar nicht? Warum ist der Mündlichkeitsgrundsatz so wichtig für ein transparentes und faires Gerichtsverfahren? Dies und mehr erfahren Sie bei „RECHT kurz“.
Transkript
Moin und herzlich willkommen bei Recht kurz. Moin Markus.
Hi Tim, grüß dich.
Markus, hast du uns ein Thema mitgebracht?
Ja, aber ganz, ganz anderes heute. Der Mündlichkeitsgrundsatz, Tim.
Der Mündlichkeitsgrundsatz.
Was verstehst du darunter?
Wir sind also im Prozessrecht, ja. Der Mündlichkeitsgrundsatz ist ein grundlegendes
Prinzip des deutschen Rechtssystems.
Er besagt, dass alle wesentlichen Verfahrensschritte und Entscheidungen im Rahmen
eines Rechtsstreits, eines Gerichtsprozesses in einer mündlichen Verhandlung
erörtert und getroffen werden müssen.
Und dazu gehören die Erörterung der Sach- und Rechtslage, die Vorstellung der
Beweisanträge und die Beweisaufnahme einschließlich der Vernehmung von Zeugen
und zum Beispiel Sachverständigen.
Genau. Der Mündlichkeitsgrundsatz steht nicht alleine, er ist mit anderen sogenannten
Verfahrensgrundsätzen verknüpft.
Da gibt es noch den Grundsatz der Öffentlichkeit. Dieser ist im Grunde durch
ein mündliches Verfahren eben gewährleistet.
Dann gibt es auch noch den Unmittelbarkeitsgrundsatz. Tim, was macht der denn? Oder besagt?
Das Prinzip der Mündlichkeit kommt eben durch den Unmittelbarkeitsgrundsatz zum Ausdruck.
Der besagt nämlich, dass mündliche Verhandlungen vor dem erkennenden Gericht stattfinden müssen.
Also vor dem Gericht, das am Ende auch die Entscheidung fällt.
Und möglicherweise auch der Richter, der die Entscheidung fällt.
Aber das wäre jetzt vielleicht schon zu verästelt, um den Unterschied zwischen
Zivilrecht und Strafrecht hier zu erklären.
Okay, bleiben wir im Zivilrecht. Man muss vielleicht noch erwähnen,
dass der Mündlichkeitsgrundsatz eben auch Ausdruck des grundrechtlich geschützten
Anspruchs auf rechtliches Gehör vor einem Gericht ist.
Genau, und aufgrund der enormen Bedeutung des Mündlichkeitsgrundsatzes stellt
ein Verstoß gegen diesen grundsätzlich auch einen wesentlichen Verfahrensmangel dar,
der insbesondere durch Rechtsmittel wie etwa Berufung, aber möglicherweise eben
auch noch später die Revision im Zivilrecht geltend gemacht werden kann.
Also halten wir fest, Mündlichkeitsgrundsatz ist ein wichtiger Verfahrensgrundsatz
des deutschen Prozessrechts.
Du sagst heute, warum heute?
Früher war es nämlich auch mal ganz anders.
Ja, gehen wir mal ein paar Jährchen zurück. Im damaligen preußischen Recht galt
nämlich ursprünglich das genaue Gegenteil, der Schriftlichkeitsgrundsatz.
Und der besagte, dass eben nur
schriftliche Unterlagen zur Urteilsfindung berücksichtigt werden durften.
Das Prinzip dazu, ich will es jetzt nicht auf Lateinisch wiederholen,
besagt aber im Grunde, was nicht gelesen wird, wird auch nicht geglaubt.
Also was nicht in den Akten steht, existiert auch nicht in der Welt.
Sozusagen, genau. Gerichtsverfahren wurden also damals auf der Grundlage nur
schriftlicher Dokumente geführt.
Okay, dann werden wir mal historisch. Also unter dem Einfluss des napoleonischen
Code de Procedure Civile, also ich bin kein französisch sprechender Mensch.
Wäre mir gar nicht aufgefallen, Markus.
Von 1806 wurde mit dem Inkrafttreten der Reichsjustizgesetze im Jahr 1879 die
Gerichtsverhandlung in mündlicher Form in das preußische Recht übernommen,
was dann zu einer stärkeren Betonung der mündlichen Verhandlung als zentralem
Element des Verfahrens im preußischen Recht führte.
Und erst einige Zeit später, das war so Anfang der 1920er Jahre,
wurde im Rahmen der sogenannten Emminger Novellen wiederum die Bezugnahme auf
Anträge und Schriftsätze in der mündlichen Verhandlung ebenfalls möglich gemacht.
Das bedeutete, dass neben der mündlichen Verhandlung auch schriftliche Anträge
und Unterlagen berücksichtigt werden können. Und so ist es ja heute noch.
Genau, die Emminger Novellen zielen
eben darauf ab, dass Gerichtsprozesse effizienter zu gestalten sind.
Dazu legten diese Novellen einen Wert auf eine gründliche und das bedeutet eben
schriftliche Vorbereitung der Verhandlungen und die Fokussierung auf die wesentlichen Punkte.
Dadurch sollte der Rechtsstreit nach schriftlicher Vorbereitung,
so auch heute in der ZPO, in einem einzigen Haupttermin erledigt werden.
Das bedeutet letztlich, dass die schriftliche Vorbereitung der mündlichen Verhandlung
trotz des eben geltenden Mündlichkeitsgrundsatzes ein wichtiges Element des
deutschen Zivilprozesses ist.
Da es eben dazu beiträgt, die Integrität und Effizienz des deutschen Prozessrechts
sicherzustellen, indem eine strukturierte
Vorbereitung eben der mündlichen Hauptverhandlung möglich ist.
Bevor wir jetzt gleich mal zu
der Bedeutung der mündlichen Verhandlungen kommen, muss man schon sagen,
anders als möglicherweise in irgendwelchen Nachmittagsgerichtsshows,
ist es schon so, dass im Wesentlichen, im Schriftlichen vorher die Rechtsstreitpunkte
und auch der Sachverhalt ausgetauscht wird.
Bedeutet auch, wenn sich ein Zuschauer in eine mündliche Verhandlung setzt,
dann kann das sein, dass er gar nicht so viel mitkriegt, worum es eigentlich
in dem Rechtsstreit geht.
Genau, weil das Wesentliche ist eben vorher schriftlich ausgetauscht worden.
Dennoch, auch wenn eben viele Informationen schriftlich ausgetauscht wurden,
bleibt die mündliche Verhandlung von großer Bedeutung, Markus.
Stichwort Persönlichkeit. Die mündliche Verhandlung ermöglicht es den Parteien,
ihre Argumente persönlich vorzutragen und auf die Argumente der Gegenseite zu reagieren.
Dies ist besonders wichtig, da schriftliche Unterlagen nicht immer alle Nuancen
und Details und erst recht keine Gefühle erfassen können.
Stichwort Glaubwürdigkeit. In der mündlichen
Verhandlung können Zeugen und Sachverständige direkt befragt werden.
Dies ermöglicht es dem Gericht, ihre Glaubwürdigkeit zu beurteilen und zusätzliche
Informationen zu erhalten.
Denn allein aus dem schriftlichen Vortrag lässt sich zu der Glaubwürdigkeit
einer Person wenig entnehmen.
Nochmal Stichwort Unmittelbarkeit. Der Mündlichkeitsgrundsatz gewährleistet
die Unmittelbarkeit des Verfahrens. Das haben wir jetzt hinlänglich gehört.
Bedeutet, der Richter kann die Parteien und auch Zeugen oder Sachverständige
direkt sehen und hören, was häufig zu einer besseren Beurteilung führt.
Da sind wir beim nächsten Stichwort Klarheit. Denn selbst wenn im schriftlichen
Vorverfahren bereits viel geschrieben wurde, können in der mündlichen Verhandlung
immer noch möglicherweise offene Fragen geklärt werden.
Auch das kann dazu beitragen, dass Missverständnisse rein aus dem schriftlichen
Vortrag vermieden werden und eine fundierte Entscheidung getroffen werden kann.
Genau, dann bleibt noch das Stichwort Fairness. Die mündliche Verhandlung bietet
grundsätzlich allen Parteien die gleiche Gelegenheit, ihre Position vor dem
Richter oder Richterin vorzutragen.
Dies trägt naturgemäß zur Fairness des Verfahrens.
Und damit kein falscher Eindruck entsteht, der in sich Zweifel zu vermeiden,
es ist jetzt nicht so und das heißt der Mündlichkeitsgrundsatz bedeutet nicht, dass all das,
was schriftlich vorgetragen wurde, in teilweise recht langen Schriftsätzen dann
in der mündlichen Verhandlung nochmal vorgelesen werden muss.
Wir hatten es gerade bei den Emminger Novellen, in der mündlichen Verhandlung
kann eben auch und wird in aller Regel auch zum Großteil Bezug auf das schriftliche
Vorverfahren genommen.
Im Zivilrecht muss auch ein zum Beweis eingeholtes Sachverständigengutachten
nicht mündlich vorgetragen werden oder verlesen werden.
Es ist eben durchaus nicht unüblich, dass wenn noch offene Fragen sind beim
schriftlichen Sachverständigengutachten,
dass das Gericht dann eben auch den Sachverständigen zur mündlichen Verhandlung
lädt, damit der sein schriftliches Gutachten noch einmal mündlich erläutern
kann und eben auf Nachfragen des Gerichts und oder der Parteien reagieren kann.
Genau. Wie lange dauert denn jetzt dieses schriftliche Vorverfahren,
das ja die mündliche Verhandlung vorbereitet, Tim?
Ja, das fragst du mich, das weißt du doch selber ganz genau.
Das kann man natürlich nicht sagen. Es hängt von verschiedenen Faktoren ab, Markus. Nämlich?
Naja, wie komplex der Fall ist und auch die Bereitschaft der Parteien zur Zusammenarbeit
und die Arbeitsbelastung der Gerichte und auch die möglicherweise vielen Fristverlängerungen,
die die Rechtsanwälte beantragen, um sich mit der Mandantin oder Mandanten abzustimmen.
In der Regel dauert es einige Wochen bis einige eher Monate.
Wenige Wochen werden da nicht ausreichen.
Genau. Es sind also die individuellen Umstände des Verfahrens.
Es gibt jetzt keine Regelung in der ZBO, dass irgendwo steht,
das schriftliche Vorverfahren dauert drei, vier, fünf oder sechs Monate.
Es gibt aber auch die Möglichkeit, dass das schriftliche Verfahren sozusagen
abgekürzt wird oder nicht stattfindet und das Gericht stattdessen einen sogenannten
frühen ersten Termin anberaumt.
Tim, was hat das möglicherweise für Gründe?
Naja, der frühe erste Termin und damit der Verzicht auf das schriftliche Vorverfahren
kann im Einzelfall der Beschleunigung des Verfahrens dienen.
Ja, er bietet auch die Möglichkeit zu einer gütlichen Einigung,
obgleich die gütliche Einigung auch jederzeit im schriftlichen Vorverfahren möglich ist.
Genau, und ja, durch eine Beschleunigung des Verfahrens und die Möglichkeit
einer frühen Einigung können die Parteien natürlich auch erhebliche Kosten sparen,
die ansonsten mit einem langwierigen Gerichtsverfahren verbunden werden.
Es gibt aber auch Kritikpunkte, unter anderem heißt es, dass der frühe erste
Termin die Parteien möglicherweise unter Zeitdruck setzt, da nicht genügend
Zeit bleibt, sich angemessen auf den Prozess vorzubereiten.
Das gilt insbesondere natürlich für den Beklagten, denn der Kläger entscheidet darüber,
wann er die Klage einreicht und hat dementsprechend in der Regel so viel Vorbereitungszeit,
wie er braucht und der Beklagte muss dann bis zu einem frühen ersten Termin
in relativ kurzer Zeit seine Argumente sammeln,
vorbereiten, die Beweise sammeln und dann alles im frühen ersten Termin parat
haben, das kann mitunter schwierig sein.
Genau, deshalb ist ein Kritikpunkt eben, dass der frühe erste Termin vielleicht
zu einer Chancenungleich führt oder zu einem Ungleichgewicht und einer fehlenden Fairness.
Absolut und darüber hinaus ist es natürlich so, dass in besonders komplexen
Fällen die mündliche Verhandlung im frühen ersten Termin eben möglicherweise
nicht ausreicht, um auch alle relevanten Aspekte zu erörtern und dann eine fundierte
Entscheidung zu treffen.
Genau, deshalb hat das angerufene Gericht grundsätzlich die Vor- und Nachteile
eines solchen frühen ersten Termins sorgfältig zu prüfen oder abzuwägen und
dann eine Entscheidung zu treffen,
die zugleich eine schnelle, effiziente und auch faire Verhandlung sicherstellt.
Absolut. Ungeachtet dessen, Markus, gibt es aber auch Situationen,
in denen eine mündliche Verhandlung ganz entfallen kann.
Ja, das ist insbesondere dann der Fall, wenn die Parteien des Rechtsstreits,
also Kläger und Beklagter, auf die Durchführung der mündlichen Verhandlung verzichten.
Das können sie, denn es sind die Parteien letztlich, die das Verfahren bestimmen
oder den Inhalt des Verfahrens bestimmen und deswegen übereinstimmend auf eine
mündliche Verhandlung verzichten können. Andere Fälle, Markus?
Ja, bei Kostenentscheidungen brauchen wir auch keine mündliche Verhandlung.
Auch wenn ein Anerkenntnis außerhalb der mündlichen Verhandlung erklärt wird,
ist eine mündliche Verhandlung nicht erforderlich.
Und wenn eine der Parteien, meistens die beklagten Partei, einfach nicht erscheint,
dann reden wir von einem sogenannten Versäumnisurteil.
Ganz genau.
So, damit sind wir einmal durch.
Sind wir einmal durch.
Durch den Mündlichkeitsgrundsatz.
Wunderbar. Wenn Fragen sind, sprechen Sie uns gerne an. Ansonsten danke fürs
Zuhören, alles Gute und bis bald.
Ciao.
Tschüss Markus.
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