Michael Winkler
Theorien der Sozialen Arbeit
15.10.2021 80 min Staffel 1 Episode 17
Zusammenfassung & Show Notes
Michael Winkler (* 1953) studierte Pädagogik, Germanistik, Neuere Geschichte und Philosophie an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg wo er 1979 promovierte. 1986 habilitierte er mit seiner 1988 erschienenen Schrift „Eine Theorie der Sozialpädagogik“ an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Seit 2018 ist Winkler emeritiert.
Winkler vertritt einen subjekttheoretischen Ansatz in der Tradition der geisteswissenschaftlichen Pädagogik. Seine bisherigen Publikationen umfassen eine Vielzahl von monographischen Abhandlungen, Herausgeberwerken, und Fachbeiträgen in verschiedenen Fachzeitschriften und Sammelwerken. Seine 1988 erschienene Theorie der Sozialpädagogik wurde auch in polnischer Sprache publiziert (Pedagogika społeczna. GWP Lodz).
Transkript
Martin Klein: Herr Winkler, wenn Sie drei Worte nehmen sollten, die
Sie beschreiben, welche drei Worte wären das?
Herr Winkler: Ich erlaube mir vier: Das erste wäre Kritik, Dialektik,
Hermeneutik und ganz entscheidend Offenheit. Also Pluralität,
Offenheit, Neugier auch, aber jetzt sind es dann schon sieben Worte.
Martin Klein: Gibt es so etwas wie eine Lebensphilosophie?
Herr Winkler: Ich hoffe nicht. Ich denke ich habe tatsächlich eine.
Das ist eine wirklich sehr sehr schwierige Frage. Sie besteht aus zwei
Teilen, auf der einen Seite bin ich glaube ich ein unverbesserlicher
Optimist was anderen Menschen angeht. Also ich bin immer der
Überzeugung jemand kann etwas. Jemand will etwas und kriegt das auch
hin. Das ist sozusagen die optimistische Dimension und die
pessimistische Dimension meiner Lebensphilosophie ist
herkunftsbedingt. Man endet am Zentralfriedhof. Ich bin tatsächlich
was gesellschaftliche Entwicklungen angeht sehr sehr skeptisch,
zunehmend skeptisch geworden und hier eher pessimistisch. Aber was die
Menschen angeht, alles gut.
Martin Klein: Wie lautet der beste Ratschlag, den Sie mal bekommen
haben?
Herr Winkler: Kann ich mich nicht erinnern. Wahrscheinlich eine Tasse
Tee trinken oder.
Martin Klein: Gibt es für Sie sowas wie ein Vorbild in der Sozialen
Arbeit?
Herr Winkler: Weniger in der Sozialen Arbeit. Ich habe tatsächlich
einen sehr lieben Kollegen, der leider voriges Jahr gestorben ist, der
für mich in irgendeiner Hinsicht Vorbild ist, wenn man überhaupt so
etwas sagen kann. Das ist Herbert Colla in Lüneburg. Ich weiß nicht,
ob ihnen der Name was sagt. Aber ich finde er ist...war eine
unglaublich faszinierende Persönlichkeit, sowohl in der akademischen
Lehre, wie eben in der praktischen Sozialen Arbeit und
Sozialpädagogik. Er ist für mich sehr sehr wichtig geworden, also von
meinem akademischen Lehrer, den ich bis heute verehre ganz abgesehen,
aber Herbert Colla ist auch in vielen Gesprächen mit Freunden präsent.
Martin Klein: Dann anderen Themen, anderes Thema aber warum
interessieren Sie sich so für die soziale Arbeit/ Sozialpädagogik?
Herr Winkler: Das ist irgendwann mal gekommen. Hängt sicher auch damit
zusammen, dass ich schon als Jugendlicher sehr politisch engagiert
war, gleichzeitig tatsächlich erste Erfahrungen als Ehrenamtlicher in
einem Heim gemacht habe und von daher beide Linien die, mich immer
beschäftigen, nämlich die Frage "Was tun Gesellschaften Menschen an
und wie gehen Menschen damit um? Wie können Sie damit klar kommen?"
Das hat mich eigentlich von Anfang an beschäftigt und diese beiden
Linien, also letztendlich war das natürlich doch ein starkes
politisches Engagement und das ist eigentlich der Grund, dass ich
irgendwann hineingerutscht bin. Das war das eine. Und dann ist es
tatsächlich so gewesen, dass ich über die Promotion, also über Studium
und Promotion, mich mit einem Autor auseinandergesetzt habe. Einem
klassischen Autor, der Friedrich Schleiermacher, der eigentlich immer
menschliche Entwicklungsprozesse im gesellschaftlichen Kontext gedacht
hat. Und dann ist man irgendwann "Schleiermacherjaner" und ich bin
überzeugt dann ist man im Prinzip Sozialpädagoge.
Martin Klein: Und warum interessieren Sie sich insbesondere für die
Theorie?
Herr Winkler: Weil ich nichts anderes kann. Ich arbeite gern mit
Literatur, also mit wissenschaftlicher Literatur das beschäftigt mich.
Das ist die eine Seite und das andere ist hängt mit dem zusammen was
ich vorhin erwähnt habe, mit der Offenheit. Ich bin unendlich
neugierig und versuche Prozesse, Entwicklungen, Situationen zu
verstehen. Und das geht nur über Theorie. Also man muss begrifflich
gebundene, konzeptionell gebundene Vorstellungen haben, um eine Welt
begreifen zu können. Und das ist ein ganz elementarer theoretischer
Affekt. Das heißt noch lange nicht, dass die Theorie geordnet sein
muss. Es ist wirklich die Theorie - heißt ja Schau - zu begreifen und
noch immer zu überlegen "Wie begreife ich das eigentlich gerade? Wieso
komme ich da drauf?" Und natürlich auch die Frage "Wo baue ich mir
selber Blockaden auf?" Sind Daten, Zahlen..."Helfen die mir in der
Erkenntnis oder blockieren sie mich?" Das ist eine elementare
Theoriefrage oder wissenschaftstheoretische Frage.
Martin Klein: Okay, vielen Dank! Dann machen wir weiter mit der Kurzvorstellung
Helmut Lambers: Als nächsten Gast in unserer Interviewreihe begrüßen
wir ganz herzlich Michael Winkler. Einen schönen guten Tag! Bevor wir
zu unseren Fragen zu Ihrer Theoriebildung kommen, versuche ich mal
einen ganz kurzen aber wirklich nur kurzen biographischen Abriss. Sie
sind, ja, dazu gehört auch sie sind in Wien geboren, studierten in
Erlangen-Nürnberg an der Friedrich Alexander Universität Pädagogik,
Germanistik, neuere Geschichte und Philosophie. Sie habilitiert 1988
mit einer Schrift, die nennt sich mit dem Namen "Eine Theorie der
Sozialpädagogik" ebenfalls an der Universität Erlangen-Nürnberg. Diese
Habilitationsschrift wird uns sicherlich gleich auch noch einmal
deutlicher beschäftigen. Seit 1992 sind Sie Professor für Allgemeine
Pädagogik und Theorie der Sozialpädagogik an der
Friedrich-Schiller-Universität in Jena. Also dort auch
Lehrstuhlinhaber. Darüber hinaus verschiedene Gastprofessuren, die man
jetzt nicht aufzählen kann, oder auch muss, aber unter anderem an der
Universität in Graz und auch in Wien. Ihre Arbeitsschwerpunkte
Geschichte und Theorie der Pädagogik, Theorie der Sozialpädagogik,
Jugendhilfe Familien Erziehung sowie Kindheit und Jugend. Sie stehen
für eine kritische Erziehungswissenschaft, das werden wir, glaube ich,
im Verlauf des Gesprächs noch einmal deutlicher zur Kenntnis nehmen
können. Drei Publikationen von Ihren sehr umfangreichen
Veröffentlichungen zeige ich mal kurz unseren Zuschauerinnen und
Zuschauern. Das ist die erwähnte Habilitationsschrift "Eine Theorie
der Sozialpädagogik". Mittlerweile 30 Jahre alt, beziehungsweise
eigentlich 32, Sie haben Sie ja vorher schon vorgelegt. 88 ist sie
publiziert worden. Trotz dieser 30 Jahre ist sie hochaktuell, wie Sie
vielleicht sagen würde, "leider". Leider haben Sie in vielem
möglicherweise auch Recht gehabt. Weiterhin "Die Kritik der Pädagogik"
2006. Stichwort kritische Erziehungswissenschaft. Und aktuell ein Buch
jetzt 2018 erschienen "Kritik der Inklusion am Ende einer Illusion".
Fragezeichen könnte man vielleicht dahinter setzen, steht da aber
nicht. Auch dazu würden wir gerne noch einmal eine abschließende Frage
mit Blick auf die Herausforderungen für die zukünftige Theoriebildung
stellen. Zunächst aber mal zu Ihrer Theorie der Sozialpädagogik wie
ich finde eine der wenigen in sich geschlossenen Theoriebildung, also
in der Theorienlandschaft der Sozialen Arbeit/ Sozialpädagogik finden
wir ja eine Fülle von Theorien/ Theoriekonzepten, die ja über mehrere
Publikationen entlang unterschiedlichster Veröffentlichungen
darstellbar sind. Bei Ihnen bekommt man es wenn man so will aus einem Guss
Eine erste Frage direkt zur wissenschaftlichen
Gegenstandsbestimmung. Das fällt in der Sozialen Arbeit ja sehr
unterschiedlich aus. Sie haben eine, wenn man so will, überraschende
Feststellung getroffen, dass der wissenschaftliche oder der
theoretische Gegenstand von Sozialpädagogik der Theorie Diskurs als
solcher ist und zwar als Diskurs verstanden, der niemals abgeschlossen
werden kann. Worin sehen Sie diese nicht Abschließbarkeit des
Diskurses?
Herr Winkler: Die ist zunächst einmal darin begründet, ganz empirisch
begründet, es kommt dauernd etwas Neues dazu. Das denke ich muss man
zur Kenntnis nehmen und das ist ja auch durchaus ein gutes Zeichen,
wenn weiter debattiert wird, wenn Auseinandersetzungen stattfinden,
die meines Erachtens ohnehin eigentlich viel zu gering sind. Wir
beziehen uns ja in den Büchern ganz selten aufeinander. Aber das die
eine Seite. Die andere Seite ist, dass wir tatsächlich in diesem
Handlungsfeld und auch Denkfeld in der Spannung stehen, dass wir auf
der einen Seite, so ist zumindest meine Überzeugung, bestimmte
Kunstfiguren verwenden, aber auf der anderen Seite permanent
eigentlich mit gesellschaftlichen, historischen Veränderungen zu tun
haben. Oder genauer gesagt oftmals mit dem Eindruck gesellschaftlicher
und historischer Veränderung. Man kann ja beobachten, dass sehr viel
mehr Kontinuität besteht, als man das gemeinhin in den aufgeregten
Diskursen über Modernität besteht. Also die Problemlagen bleiben
einerseits konstant und andererseits verändern sie sich, werden auch
durch aktuelle Fragestellungen bestimmt. Insofern denke ich braucht
man gewissermaßen eine Vorstellungswelt, die gleichzeitig offen ist
und zugleich strukturelle und strukturierende Momente enthält, um neue
Entwicklungen aufnehmen zu können. Und insofern wird sich ein Ende
eines solchen Diskurses hoffentlich nicht ergeben. Wenn es nähmlich
zuende ist, dann weiß ich nicht was dann ist, wenn es dann vorbei ist,
dann wird es entweder Dogma, das kann natürlich sein, solche Phänomene
beobachten wir ja durchaus auch in der wissenschaftlichen Welt, oder
es wird vergessen, wie es zum Teil der Kritischen Theorie widerfahren
ist. Ist ja "unerledigt" gewissermaßen in vielen Bereichen vergessen
worden, oder es sind sozusagen die politischen Rahmenbedingungen, auch
für das Diskutieren, so gestaltet worden, dass man nicht mehr weiter
diskutieren kann. Das sind eigentlich alles schreckliche Aussichten.
Helmut Lambers: Sie hatten schon genannt oder angemerkt, dass immer
was Neues kommt und was uns als Neues begegnet gehören ja auch immer
wieder Versuche, den sogenannten wissenschaftlichen Gegenstand der
Sozialpädagogik und auch der Sozialen Arbeit näher zu bestimmen. Das
bereitet ja nicht nur Vergnügen, sondern auch ein gewisses Unbehagen,
zumindest bei all denjenigen die sagen:"Diese Soziale Arbeit als
wissenschaftliche Disziplin braucht doch einen eindeutigen
wissenschaftlichen Gegenstand. Andere Disziplinen machen das ja auch
im Grunde genommen auch. Warum gelingt uns das nicht?" Wie beurteilen
Sie das? Braucht die Theoriebildung der Sozialen Arbeit eine Art
Leitorientierung? Einen gemeinsamen wissenschaftlichen Gegenstand auf
den sie sich bezieht?
Herr Winkler: Ein Stück weit habe ich ja die Antwort gegeben mit dem
Bezug auf den Diskurs. Der funktioniert ja. Wir können...konnten, da
bin ich inzwischen vorsichtig geworden, wir konnten über lange Zeit
doch miteinander, bei allen Differenzen, sprechen. Inzwischen ist das
Feld so weit ausdifferenziert, dass ich mir manchmal gar nicht mehr
sicher bin, ob das gemeinsame Gespräch ob das gemeinsame aufeinander
Bezug nehmen, überhaupt noch gelingt. Zumal eine Grundlage
verlorengegangen ist und das ist ein deutlicher Unterschied zu der
Situation in der ich das Buch geschrieben hab. Nämlich die Grundlage
der Perspektive auf gemeinsame Autoren, gemeinsame Texte, "Klassiker"
wie man das früher gesagt hat. Wir haben das danach immer wieder in
der Disziplin beschworen, aber so richtig wirksam ist das nicht
geworden. Insofern denke ich habe sich die Situation verändert. Ob wir
etwas gemeinsames brauchen unbedingt? Ich weiß es nicht. Ich denke es
gibt tatsächlich einen sehr deutlichen Unterschied zwischen einem eher
naturwissenschaftlich orientierten Denken, das
mathematisch-physikalische Grundlagen beziehen kann und auch da gibt
es Grenzbereiche, in denen massive Offenheit besteht, und dem was
Geisteswissenschaften, Sozialwissenschaften genannt wird. Da gibt es
einen wunderbaren Text aus dem 19. Jahrhundert, 1848 entstanden, von
Jacob Grimm, einer der Gebrüder Grimm. Der hat damals den ersten
Germanistentag in Frankfurt mit einem Text...einem Vortrag eröffnet
über den Wert der ungenauen Wissenschaften. Das ist ein hervorragender
Text, der nämlich eines deutlich macht: Die ungenauen Wissenschaften,
die eben keine Grundlage haben, die eben mit Begriffen arbeiten, wie
-er stand ja noch im Zeichen der Aufklärung-Freiheit beispielsweise
oder Aufklärung selber oder Kultur. Also diese ganzen neu angekommenen
Begriffe zu der Zeit zwingen uns nachzudenken. Das sind ungenaue
Begriffe,
die verlangen von uns nachzudenken und im Unterschied zu den
Naturwissenschaften. Da kann man sozusagen die Formeln lernen und die
kennt man als Physiker und Mathematiker. Aber bei uns müssen wir
dauernd in Verständigungsprozesse eintreten und insofern kann es keine
sicheren Grundlagen geben, außer jenen tatsächlich sehr besonnen mit
Sprache beispielsweise umzugehen. Zu überlegen was transportieren
Worte, was transportieren Begriffe. Also bis hin zur Veränderung der
Sozialpädagik zur Sozialarbeit. Da entsteht eine Veränderung in der
gegenständlichen Auffassung und dennoch müssen wir darüber
diskutieren, können uns nicht darauf verlassen. Und Grimm hat damals
ganz klar gesagt:"Die Naturwissenschaften sind hochattraktiv studieren
weil sie einfach sind." Aber die ungenauen Wissenschaften sind
wertvoll, weil sie uns zwingen, aber auch einen anstrengenderweise uns
zwingen, uns mit der Welt und mit uns selber auseinanderzusetzen. Und
von daher bin ich da gar nicht in Panik, also es ist eingentlich ganz
gut, wenn es so unsicher ist.
Martin Klein: Aber es gibt ja Versuche durch ein Begriffsbestimmung,
Gegenstandsbestimmungen vorzunehmen wie "Soziales Problem", "das
Soziale".
Herr Winkler: Das ist völlig richtig und ich denke, es ist in jeder
Wissenschaft notwendig sich sozusagen zunächst einmal eine Art Fundus
an Begriffen und Konzepten sich anzueignen. Im Studium kommt man da
gar nicht darum herum Man muss die Handbücher auch lesen und zur
Kenntnis nehmen, um dann zu sagen "Naja für mich stimmt das ja so
nicht" und da fängt das Denken an und dieses Denken und das ist
vielleicht der entscheidende Punkt in der Sozialen Arbeit,
Sozialpädagik, aber auch in anderen Sozialwissenschaften.
Dieses Denken muss dann einmal gewissermaßen durch die Anschauung der
Wirklichkeit hindurchgegangen sein. Deswegen sind Erfahrungen im
Handlungsfeld oder wenigstens das Hinschauen so ungeheuer wichtig weil
sie diesen Zusammenhang zwischen offener Reflexion und Erfahrung
herstellen.
Mit dem Effekt, dass man dann für sich selber, das ist natürlich
wissenschaftlich heikel, da bewegen wir uns raus aus dem
Wissenschaftskontext, für sich selber so etwas wie eine grundlegende
pädagogische Haltung zu entwickeln.
Helmut Lambers: Dennoch, könnte man vielleicht einwenden, schreiben
Sie ja, dass es eine objektive Idee der Sozialpädagoge gibt.
Wenn Sie vielleicht einmal kurz umreißen was Sie mit dieser objektiven
Idee meinen, was Sie darunter verstehen.
Und zum Zweiten: haben Sie den Eindruck, dass sich die Theoriebildung
der Sozialen Arbeit jetzt als Sammelbegriff für Sozialpädagogik und
Sozialarbeitswissenschaft...dass sich diese Theoriebildung eigentlich
noch auf die Idee der Sozialpädagogen bezieht?
Herr Winkler: Ich fange man mit letzterem an. Ich bin mir nicht so
sicher, also dass man überhaupt noch... Also ich habe es ja schon
angedeutet so etwas wie einen gemeinsamen Bestand an Vorstellungen,
Konzepten hat.
Das könnte in der Tat aus verschiedensten Gründen, da müsste man sehr
sehr lange darüber diskutieren, könnte sich das gerade verändern.
Ich denke in der Tat, dass unterhalb dieses Diskurses, und das war
eigentlich hier meine "Erkenntnisanliegen", Erkenntnis geschieht ja
viel zufälliger, doch so etwas wie einige gemeinsame Vorstellungen
sind. Das sind eigentlich genau die zwei Begriffe auf die dann meine
Theorie hinausgelaufen ist also Ort und Subjekt
Wenn wir über Sozialpädagogik nachdenken und wenn wir die Literatur
zur Sozialpädagogik und zur Sozialen Arbeit anschauen, spielen immer
diese Fragen Orte und Subjekte eine zentrale Rolle.
Und jetzt kommt die grundlegende Idee die Frage danach einerseits was
stellen Gesellschaften mit ihren Subjekten an die unbedingt, das ist
ja das Paradoxe an der Situation, auf Gesellschaften verwiesen sind.
Wir können als Menschen nicht außerhalb gesellschaftlicher Kontexte
leben. Wir werden durch gesellschaftliche Kontexte einerseits
bestimmt, aber zugleich geraten wir in Beschädigungssituationen.
Da entsteht sozusagen ein Problem, an dem Soziale Arbeit und
Sozialpädagogik arbeitet.
Nämlich wie ist dieser Umgang mit Gesellschaft möglich, sodass wir am
Ende, und die Idee stammt nicht von, mir sondern von Schleiermacher,
Gestellschafter wiederum so verändern können dass wir als Menschen, ja
man kann sagen in Würde, als Subjekte mit Autonomie leben können.
Das ist, denke ich, dieses Grundproblem und egal wo wir hinschauen, in
welches Handlungsfeld wir gucken, für mich von besonderer Relevanz die
Heimerziehung, weil ich gearbeitet habe.
Wenn wir auf die Arbeit mit Dementen Personen beispielsweise schauen,
da ist es ja nochmal heikler, weil da tut die Gesellschaft, was auch
immer das heißt, das ist ja ein komplizierter Begriff, noch gar nicht
so viel, sondern das sind innere, natürich bedingte Prozesse, die das
Verhältnis zur Gesellschaft und die Fähigkeit die Gesellschaft zu
gestalten, verändert.
Aber die Fragestellung bleibt die gleiche "wie ist es möglich mit
hochgradiger Demenz doch noch in einer Gesellschaft in Würde zu leben
auf sie Einfluss zu nehmen. Aus welcher Position man durch die Demenz
gekommen ist beispielsweise, noch mit sich selbst und mitder
Gesellschaft agieren zu können" das ist so die Perspektive.
Helmut Lambers: Wenn wir jetzt einmal voraussetzen, dass die Leitfrage
des sozialpädagogischen Diskurses noch in der von Ihnen dargestellten
Ausrichtung in der Theoriebildung tatsächlich auch so stattfindet, wir
können das ja mal so unterstellen, was man sicherlich noch einmal
genauer untersuchen müsste, auch mit Blick auf die
sozialarbeitswissenschaftliche Theoriebildung. Bleibt ja die Frage,
oder was stellen Sie gleichzeitig fest, dass das sozialpädagogische
Handeln eigentlich auf keinem sicheren Fundament steht, oder es
zumindest in der gesellschaftlichen Praxis nicht finden kann, es
Sozialpädagogik also immer mit einem offenen Ausgang zu tun hat. Was
bedingt diese Offenheit oder auch dieses unsichere Fundament? Was kann
sich Sozialpädagogik, wenn sie doch eigentlich ihre Grammatik, wenn
man so will, verstanden hat und danach agiert, wie kann sie das damit
vereinbaren, dass sie das eigentlich auf einem unsicheren Fundament
tut?
Herr Winkler: Da würde ich zweierlei unterscheiden. Habe das im Buch
getan und würde heute noch die Unterscheidung schärfer konturieren.
Soziale Arbeit hat heute ein vergleichsweise stabiles Fundament, über
das man aber auch wiederum sehr intensiv nachdenken muss, nämlich in
der Verbindung mit sozialstaatliche Organisation, oder abstrakter
gesprochen, gewissermaßen mit Luhmann, sie ist als System ausgebildet.
Egal wie die sozialstaatliche Organisation ist, wir können in allen
fortgeschrittenen modernen Gesellschaften feststellen, dass es so
etwas wie eine systemische Organisation von sozialer Arbeit gibt, wie
die dann qualitativ gestaltet sein mag, ist eine ganz andere Frage.
Martin Klein: Aber es gibt sie und alle Gesellschaften operieren mit
irgendwelchen Formen von sozialer Arbeit.
Da gibt es eine vergleichsweise starke Verlässlichkeit, auch wenn wir
darüber inzwischen sehr skeptisch oder in dem Punkt sehr skeptisch
geworden sind, aufgrund dessen, was wir heute als Transformation des
Sozialstaats bezeichnen. Das ist die eine Seite.
Herr Winkler: Da gibt es Stabilität. Die andere Seite ist die, die
eigentlich auf die unmittelbaren Interaktionen bezogen sind.
Da, denke ich, sind wir tatsächlich immer unsicher, wie in allen
pädagogischen Prozessen. Wir wissen zwar um bestimmte
Entwicklungsprozesse, die Menschen durchmachen, und zwar sowohl in
psychologischer Hinsicht, wie aber auch in sozialer Hinsicht, also was
sozial emotionale Entwicklungen angeht, wissen wir einigermaßen mit
was wir in notabene in einer bestimmten Gesellschaftsform...womit wir
rechnen können.
Das ist die eine Seite. Die andere Seite sind die ganz konkreten
Verhältnisse.
Also Kinder, die aus welchen Gründen auch immer, sich verweigern und
sagen "Nee ich mach da nicht mehr mit!"
Da wissen wir zunächst einmal nicht, warum das in diesem konkreten
Fall geschehen ist. Wir können Vermutungen anstellen, aber wir sind
immer auf einer unsicheren Ebene. Wir müssen fragen, wie sind die
Lebensgeschichten wie sind die Familiengeschichten.
Und selbst dann haben wir nur bedingt Sicherheit.
Selbst wenn man Generationenmodelle annimmt und über die Generation
replizieren sich bestimmte Verhaltensmuster, was tatsächlich empirisch
sehr stark zutrifft, da ist ein erstaunliches Maß an Unsicherheit
drin, weil und das können wir empirisch sehr sehr gut nachweisen, weil
es immer wieder so etwas wie Schlüsseltsituationen oder gibt
gewissermaßen biografische Knotenpunkte im Leben von Menschen gibt,
die von denen sich aus Entwicklungsweg ergeben. So das ist die eine
Seite die Unsicherheit, weswegen ich gegenüber allen hardcore
Problemdiagnosen sehr sehr skeptisch bin.
Sie sind möglich, aber als sehr offene Diagnose. Und die andere Seite
ist die, ich denke, es ist bis hinein in die normativ vermittelte
Haltung ganz entscheidend, dass wir mit Offenheit rechnen.
Wir wissen nicht wie die Entwicklungen ausgehen. Also...
Wir sind ja in Münster.
Hier gibt es ein fantastisches Kriminologischen Institut, die
sogenannte Delinquenz Karrieren verfolgt haben.
Die Befunde sind unglaublich aufregend, weil all das was in der
öffentlichkeit und auch in der Politik und zum Teil in der Fachwelt
diskutiert wird, über die prognostischen Möglichkeiten aufgrund
bestimmter Situationen... Das widerlegt sich eigentlich in der Praxis.
Da sind ganz offene Entwicklungsverläufe. Also ein Jugendlicher, von
denen man sagen würde, Intensivtäter, bekannt bei der Polizei, ist die
Prognose ziemlich düster.
Wir wissen nur nicht, soll man ihn in den Knast stecken, um es mal
ganz hart zu formulieren.
Dann wissen wir eigentlich mit relativ hoher Sicherheit, dann wird die
Biografie verhärtet... Und dann findet er eine Freundin.
Und das ganze Ding entwickelt sich völlig anders. Und das ist auch
unser Tun.
Wenn wir in der Sozialpädagogik arbeiten, wir wissen nicht genau, wie
wir auf ein Kind, einen Jugendlichen, auf Eltern im Beratungskontext,
wie wir wirken, welche Veränderungen wir anstoßen.
Also es ist die Offenheit der Zukunft, die entscheidend ist und die
wir im Grunde theoretisch reflektieren müssen.
Martin Klein: Sie haben ja jetzt diese beiden Seiten beschrieben,
einmal die sichere oder stabile Seite und die unsichere Seite.
Und dazu kommt ja noch etwas, das Sie das "Münchhausenproblem" nennen,
also, dass dazu ja nochmal die Situation da ist, dass diejenigen, die
in den Sumpf gefallen sind, sich praktisch am eigenen Schopf
herausziehen sollen und dann auch noch die Wege oder Stege, schreiben
Sie, zum Land hin bauen sollen.
Was meinen Sie damit genau?
Herr Winkler: Das ist zunächst einmal im Grunde auch wiederum eine
ethisch bedingte oder normativ bedingte Aussage, weil ich einfach
gesagt habe: Wir haben keine Berechtigung unmittelbaren Einfluss auf
Personen und ihre Entwicklung zu nehmen das ist ethisch verwerflich.
Unmittelbaren Einfluss, Druck also das sind diese Vorstellungen von
Pädagogik, die da heißt: "Sie müssen den verändern, Sie müssen doch
Effekte haben!" und wir hatten damals, wie ich das Buch geschrieben
hatte ein paar Jahre vorher hatte ja eine Kritik der Antipädagogik
geschrieben, aber so weit weg von dem Laden "Antipädagogik" bin ich
gar nicht, weil das Grundproblem für mich immer darin bestanden hat
"Menschen sind frei".
Wie können wir freie Menschen, selbst wenn wir es sehr sehr gut mit
Ihnen meinen, in einer Art und Weise beeinflussen, dass sie was
anderes machen? Dann manipulieren wir sie.
Insofern besteht da ein systematisches Problem: Wie können wir es
denken, wie ist es eigentlich möglich auf Menschen überhaupt Einfluss
zu nehmen. Und da entsteht die Grundüberlegung: Wir müssen Kontexte
schaffen, mit denen sich Menschen auseinandersetzen können und das
sind grundlegende Kontexte.
Das ist sozusagen das Brett im Sumpf oder im Morast, wenn er nicht
gerade brennt, wie es grade geschieht, im Moor.
Aber von dem aus... das können wir drunter legen.
Aber damit müssen wir immer noch rechnen, dass die Leute von einem
Brett runter gehen.
Aber ansonsten ist die Arbeit, die Entwicklungsarbeit, die die
Veränderungsarbeiten, muss im Prinzip jeder Mensch selber schaffen und
das ist nicht nur ein ethisches Argument, also ich hatte es relativ
stark ethisch argumentiert, heute bin ich tatsächlich noch ein
bisschen klüger, weil wir insbesondere auch aus der Anthropologie und
aus der biologischen Anthropologie wissen, dass Menschen sich selber
erzeugen, konstruieren.
Ich bin kein Anhänger des Konstruktivismus, aber die Grundidee ist,
dass Menschen sich selber verändern und wir nur Rahmenbedingungen
schaffen können und auch nur dürfen, in denen Menschen sich selber
entwickeln.
Und das ist eigentlich so diese Idee, dass sie eigentlich für sich
selber, dass wir eine Grundlage schaffen können und die Menschen sich
selber entwickeln können und uns dann wiederum überraschen.
Soziale Arbeit ist finde ich eine Überraschungswissenschaft und eine
Überraschungsprofession. Ja das ist ja das erstaunliche. Und eine ganz
wichtige Dimension dabei ist die zeitliche Perspektive. Deswegen bin
ich so unglücklich darüber, was gegenwärtig vor allem im Feld der
Jugendhilfe passiert, wenn nach sechs Monaten geguckt werden soll: was
haben wir verändert?
Nein! Viele Veränderungen, viele Entwicklungsprozesse die merkt man
nach 30 Jahren! Da kommt dann irgendeiner und sagt:"Sie haben es mir
vor 30 Jahren doch gesagt damals. Und man sagt dann:"Hmm, was hab ich
zu dir gesagt?" "Ja! Das soll ich so und so machen. Und ich habe es
jetzt so gemacht und es läuft prima!" Also ich will das alles gar
nicht idealisieren. Man macht auch ganz schreckliche Erfahrungen. Aber
im Großen und Ganzen ist eigentlich dieses.. das steckt dahinter...
dieses Vertrauen in Menschen, dass sie sich verändern, wenn sie das
wollen. Das ist eigentlich die Grundlage unseres Geschäfts.
Martin Klein: Sie haben gerade schon gewisse Wirkungsmöglichkeiten
oder Aspekte sozialpädagogischer Intervention angesprochen. Wenn Sie
das jetzt mal auf die eigene Theoriebildung beziehen, ich weiß es ist
eine schwierige Frage sich zu fragen: welche Bedeutung hat
möglicherweise meine Theorie der Sozialpädagogik für die Praxis
konkret. Klar es geht nicht darum, das ist auch nicht Ihr Anspruch,
darauf weisen Sie immer wieder hin, Theorie hat nicht die Aufgabe die
Praxis anzuleiten und quasi zu einer Technologisierung von Praxis
beizutragen. Aber gleichwohl wird sie doch Wirkungsaspekte zeitigen.
Könnten Sie die einschätzen oder haben Sie eine Vorstellung?
Herr Winkler: Ich habe witzigerweise Rückmeldungen.
Eine der ersten Rückmeldungen war gewesen, dass mir jemand geschrieben
hat.
Sie haben gerade eine Alteneinrichtung umgebaut, oder sind gerade
dabei umzubauen, und operieren sozusagen mit meinen Grundkategorien
und das funktioniert.
Die Frage ist ja und das sind ja alte Menschen.
Aber ich denke es ist für alle Menschen ganz entscheidend. "Was
passiert denn mit meinem Lebensort, kann ich den selber... da muss was
verändert werden kann ich nachvollziehen oder auch nicht... Aber wie
kann ich da mitwirken, wie kann ich Einfluss darauf nehmen, dass ein
anderer Ort für mich entsteht.
Wie kann ich den gestalten? Das ist eigentlich so die ganz
grundlegende Frage, und die ist in dieser Veränderung, in dem
Veränderungsprozess des Altenheims auch beachtet worden.
Also man hat beide Perspektiven: den Ort, das Zimmer, buchstäblich und
die Frage: Wie können sich Menschen dazu verhalten? Wie können wir es
aufnehmen? Können sie es überhaupt?
Das muss man berücksichtigen. Könnte als Subjekte wirken. Das ist
zunächst mal die Rückmeldung Man muss ja vielleicht auch dazu sagen.
Wir kommen vielleicht noch mal später dazu..
Das Ding ist ja nicht nur, obwohl das toll wäre, aus dem Denken
entstanden, sondern es waren ganz konkrete Erfahrungen, die ich
gemacht habe, in Einrichtungen und die mich immer wieder auf diese
zwei Figuren dann hingeführt haben, die ich dann sozusagen grundlegend
verwendet habe.
Ich denke aber auch, dass die Frage danach über Subjektivität
nachzudenken. Was heißt das in aller Unbestimmtheit dieses Ausdrucks.?
Wie kann ich Menschen begegnen? Wie kann ich eigentlich noch jemanden,
der ganz unten angekommen ist, wie kann ich dem doch noch sagen:"Ja du
bist ein Subjekt." Und wie kann ich das auch wiederum, ja wenn Sie so
wollen, als Haltung für mich geltend machen und für mich durchsetzen?
Das ist eigentlich der zentrale Impuls, den ich heute mehr denn je
noch einmal für die Praxis geben will, weil ich sehe, dass in der
sozialpädagogischen-und sozialarbeiterischen Praxis, aber auch in den
Schulen beispielsweise die Frage nach der Subjektivität der Kinder,
die Frage nach der Subjektivität der Jugendlichen schlicht und einfach
hinausgeschmissen worden ist.
Wir tendieren gesellschaftlich in einem solchen Maß zur
Objektivierung.
Wir verwenden in der Sozialen Arbeit statistisch begründete, auf
Evidenz gestützte Manuale. Das ist hilfreich! Das ist nicht im
Grundsatz zu verdammen. Aber es ist zu fragen: gilt das für diese
Personen.
Damit kommt die Perspektive wieder rein.
Und insofern ist es fast eine Predigt, die ich dann immer halte. Leute
denkt über Subjektivität nach. Denkt darüber nach, werft den Blick auf
die Kinder und fragte euch:"Wie würde es mir denn gehen wenn jemand zu
mir sagt: Du kommst aus einer sozial schwachen Familie." Hilfe! Hilfe.
Ich würde es ablehnen! Wie viele von uns kommen tatsächlich, aus nach
den Standards, die wir heute anlegen, aus sogenannten sozial schwachen
Familien?
Die überwiegende Mehrheit unserer Generation kommt, gemessen an den
heutigen Standards, aus bildungsfernen Schichten.
Und wir verwenden immer noch diese Ausdrücke und bemerken gar nicht
was das eigentlich bedeutet, welche Form von Objektivierung, das heißt
Entsubjektivierung steckt da drin. Und deswegen finde ich ganz
entscheidend den Impuls für die Praxis. Denkt bitte darüber nach das
sind Subjekte, Menschen, die oftmals schwierigste Lebenssituationen in
faszinierender Weise bewältigt haben und in irgendeiner Weise gut
weiterleben wollen.
Helmut Lambers: Sie haben ja mal geschrieben, dass die Hauptaufgabe
der Pädagogik darin bestünde nicht die Interaktion zwischen Erzieher
und Zöglingen sicherzustellen, sondern vielmehr das sogenannte
pädagogische Element. Ist damit bereits schon Subjekt und Ort gemeint?
Herr Winkler: Nein. Es ist eigentlich noch... geht noch weiter... Im
Grunde eigentlich die Möglichkeit sich auf ein solches Geschäft
überhaupt einzulassen.
Man muss ein bisschen weiter ausholen. Das ist ja ein Thema für mich
in der Kritik der Erziehung gewesen.
Ich habe einfach beobachtet, dass vieles von dem was wir sozusagen
diskutieren im Bereich der Pädagogik oder auch im Bereich der Therapie
beispielsweise, dass das eigentlich immer auf Voraussetzungen aufbaut.
Also auf die Voraussetzung dafür, sich auf ein bestimmtes Setting
überhaupt einzulassen, überhaupt darüber nach zu denken sich helfen zu
lassen oder sich ansprechen zu lassen.
Und das ist eigentlich der entscheidende Punkt, den wir auf den wir
achten müssen, dass so etwas wie ein vorpädagogisches Element, also
eine Grundlage und Grundlegung darauf miteinander zu kommunizieren
gegeben ist.
Insofern ist das eine ganz schwierige Thematik, weil es auch so Fragen
anspricht, wie ist ein gesellschaftliches Klima, wie gehen wir
miteinander um?
Lassen wir uns sagen? Wollen wir andere belehren oder unterlassen wir
es?
Wie sprechen wir miteinander bevor überhaupt das eintritt, was Klaus
Prange als Zeigehandlungen... eintreten kann, und wirklich werden
kann.
Martin Klein: Der Subjektbegriff ist ja dann sehr zentral. Also wir
haben jetzt über das vorpädagogische gesprochen. Und über den
Subjektbegriff. Und Sie beschreiben ja den Subjektbegriff mit den
Begriffen Handeln, Autonomie und Erfahrung.
Wie muss ich mir das vorstellen als Sozialpädagoge, als
Sozialarbeiter?
Wie muss ich diese Kategorien berücksichtigen, oder wie kann man
darüber den Subjektbegriff fassen?
Herr Winkler: Also da fange ich erst mal ganz kess an. Schauen Sie in
den Spiegel am Morgen und am Abend und dazwischen auch. Man muss
zunächst einmal, um sich selber als Subjekt zu begreifen, muss man
sich darüber im Klaren sein, dass man Wirkungen erzielt.
Und zwar auf den unterschiedlichsten Ebenen: Mimik, Gestik.
Das ist ganz klar, dass man zugleich auch eine Geschichte hat.
Das ist ja die berühmte bernfeld`sche Mahnung. Das erste Kind, mit dem
man zu tun hat, ist man selber. Dass man sich auch daran erinnert, aus
welchen Kontexten und Konzepten heraus bin ich eigentlich in diesen
Beruf hineingeschlittert.
Es ist ja meistens gar kein direkter Weg.
Man muss über sich selber nachdenken.
Was ist einem wichtig, was sind die Lebensthemen, die einen bewegen
und die einen auch im Blick auf andere Menschen bewegen. So, das ist
die eine Seite. Und die andere Seite ist, ich hab es ja schon ein
bisschen erwähnt, ist eigentlich dieses unbedingte Vertrauen darauf,
dass Menschen auch in schwierigsten psychischen Krisen, auch mit
schwierigsten Verhaltensweisen, doch in irgendeiner Weise sich selber
darstellen wollen, mit ihrer Lebenswelt, mit ihrer Welt sich
auseinandersetzen wollen und diese bewältigen und diese meistern
wollen.
Selbst derjenige, der im schwierigsten Teil des Alkoholismus hängt,
abgesehen von allen naturwissenschaftlich und psychologisch zu
erklären Faktoren, die eine ganz wichtige Rolle spielen. Der lebt ja
sein Leben. Und er tut dies in einer Art und Weise, die uns vielleicht
zunächst einmal fremd und befremdend vorkommt. Aber es ist zunächst
einmal Ausdruck einer subjektiven Lebensform, einer Bewältigungsform.
Was unsere Aufgabe dann ist, ist sozusagen weitere Möglichkeiten,
Perspektiven zu eröffnen, die gewissermaßen für das jeweilige Subjekt
Alternativen da darstellen können, aus denen es wählen kann.
Man kann sagen: Der Ort ist auch immer... und der Ort mögen die vier
Steine auf der Straße sein, auf denen das Gespräch zwischen dem
Alkoholiker und dem Sozialarbeiter, dem Streetworker stattfindet. Das
ist der Ort. Und aus diesem Ort gewissermaßen unterschiedliche
Sichtweisen, Perspektiven zu eröffnen: Du kannst auch mal was anderes
tun als zu saufen, um es mal sehr banal für den Moment zu formulieren.
Das ist eigentlich dieses Geschäft, in dem drinsteckt."Ich traue dir
zu, dass du auch noch was anderes machst, wenn du es willst.
Helmut Lambers: Sie haben im Prinzip jetzt umrissen, dass das, was
Ihre Theoriebildung der Praxis, wenn man so will, an die Hand geben
kann ja die beiden Reflektionsoperatoren Subjekt und Ort darstellen.
Von daher brauchen wir das, glaub ich, nicht nochmal zu vertiefen,
aber zum Subjektbegriff unterteilen Sie ja noch einmal in... Oder
anders gesprochen, Sie gehen von einem dynamischen Subjektbegriff aus.
Und sprechen davon, dass das Subjekt sich im Modus der Differenz, oder
auch im Modus der Identität, und zum Letzteren gehört auch der Modus
des Könnens, befinden kann. Das hört sich ein bisschen technisch an,
ist aber gar nicht so gemeint. Aber weshalb ist es Ihnen wichtig diese
Unterschiede... auf diese unterschiedlichen Modi noch einmal
hinzuweisen?
Herr Winkler: Ich glaube der entscheidende Punkt ist tatsächlich der
des Könnens, weil nämlich diese Modi geben uns im Grunde so etwas wie
eine Legitimation Menschen etwas zu zeigen.
Also, wenn ich im Modus der Differenz bin, heißt es, ich falle
gewissermaßen aus der Gesellschaft heraus.
Jetzt kann man sagen:"Ja gut rausgefallen. Ende der Durchsage."
Und die Aufgabe, die Soziale Arbeiter und Sozialpädagogik hat, ist ja
die zu gucken kriegen wir es hin, dass jemand die Handlungsmittel an
die Hand bekommt, gezeigt bekommt A, um die Weltsituation, also seine
Umweltsituation, seine lebensweltliche Situationen, zu begreifen und
zu gestalten und B, sich selber auch in dieser Situation zu begreifen,
um so sozusagen die Welt anzueignen.
Also dahinter stecken Theoretiker, die für mich ganz wichtig geworden
sind, nämlich Wygotski auf der einen Seite, aus der Psychologie. Das
Ganze, die Modustheorie ist ja im Grunde eigentlich eine
Interpretation von Wygotski und auf der anderen Seite ein Autor, der
inzwischen vielleicht wieder bekannt wird.
Ich hoffe es so. Nämlich der französische Philosoph, Psychologe Lucien
Seve. Das war im Studium eine, wirklich, eine der zentralen
Erfahrungen, die sein Buch zu lesen, "Marxismus und Theorie der
Persönlichkeit" das ist gerade in einer neuen Auflage wiederum
erschienen. Wo er zeigt, eigentlich, wie sich Menschen in
gesellschaftlichen Verhältnissen, wie sie durch die gesellschaftlichen
Verhältnisse im Grunde eigentlich Handlungschancen und
Handlungsmöglichkeiten verlieren, gewissermaßen.
Er spricht von Verdinglichung und Objektivierung, nimmt da Lukács auf.
Sich sozusagen auf sich verwiesen werden und wir können das empirisch
auch ganz deutlich sehen: Arbeitslosenbiografien beispielsweise sind
geradezu Zirkelbewegungen in sich selbst hinein.
Man verliert an, heute würde man sagen, Kompetenzen, an Fähigkeiten
und fällt gewissermaßen in sich und aus der Gesellschaft heraus.
Der entscheidende Punkt ist der, nämlich wie können wir es
sicherstellen und ermöglichen, welche Handlungsmittel müssen wir zur
Verfügung stellen damit Menschen ihre Gesellschaft, ihre
gesellschaftlichen Rahmenbedingungen aneignen können, sie mit diesen
umgehen können, diese alltäglichen Entfremdungs-und
Verdinglichungsprozesse überwinden können und gleichzeitig wiederum
sich selbst entdecken können.
Und das ist genau dann wiederum der Modus der Identität, der übrigens
kein glücklicher sein muss. Das Wissen, die Gesellschaft ist nicht
wirklich eine gute, aber sie ist insofern dann eine bessere für uns,
wenn wir das Gefühl wenigstens haben, in dieser Gesellschaft nicht nur
anerkannt und geachtet zu sein, das ist schon fast wiederum eine viel
zu große Erwartung, sondern zu gucken:" Ich komme mit dieser
Gesellschaft klar. Ich kann sozusagen so weit mein Leben gestalten,
dass ich sagen kann: ja es ist noch in meiner Hand. Wie bescheiden das
auch immer sein mag, dass es etwas in meiner Hand ist." Und das ist
dieses Spiel mit dem Modus der Differenz und dem Modus der Identität,
der für mich ja gleichzeitig auch so etwas wie ein diagnostisches
Instrumentarium war. Wie weit sind eigentlich die Menschen aus der
Welt gefallen? Was muss ich für Sie tun, damit sie mit dieser Welt,
mit mir und mit dieser Welt, ist ein großer Begriff, aber damit ist
ganz konkret gemeint mit den Herausforderungen des Alltags klarkommen
können?
Da bin ich eigentlich relativ nahe bei Hans Thiersch. Habe aber lange
gebraucht, bis ich es kapiert habe, was er da meint.
Martin Klein: Aber Sie beschreiben ja, dass die personale Funktion der
Sozialpädagogik irgendwie dann zu sehr auf Methoden oder auch auf
Techniken dann irgendwie reduziert wird.
Gleichzeitig wünscht man sich das ja auch, wenn man sagt:"Ich bin als
Sozialpädagoge, Sozialarbeiter unterwegs und möchte dann auch Methoden
und Techniken erlernen." Aber Sie kritisieren durchaus diese
Verbindung.
Herr Winkler: Ja, da würde ich sagen, ich mahne zu einer gewissen
Vorsicht. Da war das Buch wirklich weitsichtig, weil in der Tat das
eingetreten ist, dass man heute an Methodenkatalog hat.
Ich habe ja schon von der Diagnose gesprochen. Da gibt es die
diagnostischen Kriterien ICD 10 11 DSM 4 5. Was halt gerade aktuell
ist. Und die werden dann in Manualen, diagnostischen Manualen
verwendet, um dann in technische Manuelle überzugehen.
Ich denke, es ist wichtig über ein Methodeninstrumentarium zu
verfügen, zu wissen was können wir, weil man ja auch manchmal sehr
schnell entscheiden muss.. Was wäre hier hilfreich.
Nach unserem Dafürhalten und in aller Offenheit und in allem riskanten
Zugang aber gleichzeitig fürchte ich so schwerwiegend und belastend es
für viele ist, dass es tatsächlich auf uns als Personen ankommt, ob es
uns gelingt so etwas wie Empathie zu erzeugen. Und uns selber
überwinden zu können. Ob es uns gelingt kontrolliert etwas zu
erreichen, was mal der Urie Bronfenbrenner gesagt hat:"You have to be
mad about that kid." Also diese Form von Zuneigung, verrückter
Zuneigung zu anderen Menschen, um zu sagen:" Ach der Typ! Eigentlich
nervte der mich tierisch." Müssen wir uns ja eingestehen, also wenn
wir im allgemeinen sozialen Dienst tätig sind, dann denken wir:"Hilfe,
mit wem haben wir es jetzt hier gerade zu tun?" Und doch so etwas wie
eine Brücke, eine Verbindung herzustellen und zu gucken, wie kriegen
wir das hin und dann kann man noch einmal schauen, ob bestimmte
Instrumente, da würde ich übrigens an die Psychoanalyse auch immer
wieder denken, dass Instrumente helfen können, dann weiter mit
Menschen zu arbeiten.
Ich selber habe ganz viel gelernt weil es damals so en vogue war über
Rogers Klienten zentrierte Methode. Das hilft mir bis heute noch, zu
sagen:"Ja Spiegelungsprozesse. Was erzeugt ein Klient bei mir an
Spiegelung und erzeuge ich bei ihm? Wie kriegen wir eigentlich hier
eine Vorstellung von den Bildern, die wir gegenseitig in uns erzeugen,
wie kriegen wir die hin?"
Oder was bedeutet es eigentlich, fällt mir sehr sehr schwer, ich gebs
ja zu, nichts zu sagen, einfach tatsächlich zu hören und jemanden zu
hören, der ganz langsam, schweigt. Das auch auszuhalten. Also das sind
natürlich Techniken. Da habe ich eigentlich überhaupt kein Problem.
Nur, wo ich ein Problem habe, ist tatsächlich dieses abarbeiten von
Listen und Anwenden von Technik und danach prüfen, ob es gewirkt hat
und zu sagen:"Oh, nach sechs Monaten hat es zumindest nicht gewirkt.
Jetzt kommt die nächste Eskalationsstufe oder eine andere Technik."
Damit erzeugen wir das was wir über Jahrzehnte bekämpft haben.
"Drehtüren-Jugendhilfe" beispielsweise. Da kommt eine Maschine nach
der anderen und die Jugendlichen, die Klienten laufen dadurch.
Helmut Lambers: Bezogen auf Praxis, weisen Sie auch deutlich darauf
hin, dass... Sie haben das "Prozess kommunikativer Sinnstiftung"
genannt... Dass das eigentlich der Gegenstand der praktischen Sozialen
Arbeit ist, wenn man so will. Also weniger dann das Abarbeiten von
irgendwelchen Listen und Evidenzen, oder Evidenzüberprüfung. Sondern
vielleicht auch im Sinne des aktiven Zuhörens, so etwas wie
Sinnerzeugung, Sinnstiftung in Gang zu setzen.
Woran denken Sie, wenn Sie von Sinn reden?
Welchen Sinn geht es denn da? Kann man das im konstruktivistischen
Sinne als der subjektiv erzeugte Sinn verstehen, oder geht es
eigentlich auch um einen Sinn, um eine Sinnerzeugung, die auf dem
Hintergrund eines gesellschaftskritisch aufgeklärten Sozialpädagogen
mit in die Sinnerzeugung hineingebracht wird?
Also, zunächst einmal, was kann man sich darunter vorstellen unter
kommunikativer Sinnstiftung?
Martin Klein: Gute Frage, ich ziehe den Satz freiwillig zurück.
Ich denke, Sinn ist ja, da bewege ich mich so ein bisschen im Kontext
der Phänomenologie... Luckmann und Berger... Dass wir in allen
Zusammenhängen so etwas wie gemeinsame Horizonte bilden. Was können
wir teilen? Was können wir auch nicht teilen? Dieser Zusammenhang. Und
darüber sich auseinanderzusetzen. Ich habe ja ein pädagogisches
Modell, das immer so triadisch angelegt ist. Es gibt immer irgendwie
so etwas, wie einen Gegenstand über den man sich verständigen kann,
auf dem man zeigt und diese Sinnhorizonte. Es gibt etwas Gemeinsames.
Herr Winkler: Das kann konflikthaft sein und diese Herstellung, dieses
suchen nach dem Gemeinsamen. Haben wir etwas, worüber wir miteinander
zunächst einmal sprechen können, das uns von dem aus wir dann etwas
entwickeln können, was unser gemeinsames Handeln in der Zukunft
bestimmt? Das ist eigentlich der ganz banale Sinn von Sinn in diesem
Kontext. Also gar nicht so aufgeregt sein, aber zu finden und etwas
herauszusuchen.
Hier gibt es etwas, was uns in irgendeiner Weise für unser Sprechen
und für unser Handeln miteinander ins Gespräch bringt.
Dieser berühmte dritter Faktor, der von dem aus wir ja beide gemeinsam
eine Grundlage haben, um weitere Handlungen eingehen zu können.
Helmut Lambers: Wäre damit im Prinzip auch das, was Sie ja auch
deutlich reflektieren, also die Trennung Subjekt, Ort, also hier
Subjekt und Ort wieder näher zusammenzubringen? Und dann andersrum
gefragt: Können Sie vielleicht in zwei drei Sätzen sagen, was
eigentlich Subjekt und Ort auseinander gebracht hat?
Denn offensichtlich stimmt es daher nicht mehr.
Herr Winkler: Das weiß ich gar nicht. Also bei Subjekt, Ort sind
zunächst einmal theoretische Figuren. Figuren für die Sozialpädagogik,
um zu sagen: "Da musst du drauf gucken und da musst du drauf gucken."
Ob dahinter die Frage steht, dass das auseinander gebracht worden ist,
weiß ich nicht. Praktisch weiß ich nur, dass das praktische Handeln
sozusagen damit zu tun hat für Subjekte, damit sie ihre Subjektivität
finden und sich entwickeln und handeln können, Rahmen/Rahmungen
bereitzustellen. Und, das ist wichtige, diese beiden Begriffe sind ja
auch kritisch gemeint. Nämlich, wir müssen genauso auch fragen, ob
nicht Rahmungen, Orte und auch festnageln und Subjektentwicklung
unterbinden. Also die ganze Diskussion um totale Institutionen
beispielsweise. Das ist eine ortsbezogene Debatte und das ist eine
Debatte, ich kann das jetzt nicht vermeiden, die wir führen müssen im
Blick auf die Institutionalisierungsprozesse, die wir gegenwärtig
sozusagen als großes gesellschaftliches Gut predigen, indem wir Kinder
von 0.6 bis 18 in Anstalten zwingen. Alle finden es toll. Ich nicht.
Also das ist der Blick auf die Orte. Ich glaube nicht, dass es darum
geht jetzt Ort und Subjekt zusammenzubringen, auf der real Ebene
zusammenzubringen, sondern zunächst einmal als sozialpädagogische
Grundfigur darüber nachzudenken, was tun wir denn da gerade.
Was bedeutet es eigentlich wenn wir Kinder, ich bleibe jetzt bei
diesem Beispiel, weil es so aktuell ist, so lange an bestimmte Orte,
noch dazu der der "Bildung" nennt sich das, bringen ohne zu überlegen,
welche Nebenfolgen wir damit erzeugen, nämlich für die Entwicklung
ihrer Subjektivität.
Martin Klein: Sie beschreiben ja, dass Pädagogik auf der einen Seite
gesellschaftliche Veränderungen ermöglichen und eben, auch wie Sie
gerade gesagt haben, die Gesellschaft eben auch die Pädagogik
verändern kann. Wenn man sich diese beiden Möglichkeiten anschaut. Wer
ändert wen mehr?
Was würden Sie da sagen?
Ist es eher die Gesellschaft, die umfangreicher auf die Pädagogik
einwirkt, oder ist es die Pädagogik, die Gesellschaft dann doch auch
verändern kann und entwickeln kann? Wie sehen Sie das?
Herr Winkler: Jetzt wirds Sophisticated.
Ich mache mal lieber die Prämisse klar, von der aus ich denke. Also
ich denke, dass Pädagogik tatsächlich so etwas wie eine ganz ganz
eigene Logik hat.
Das ist, um es mal sehr zugespitzt zu formulieren, pädagogische
Prozesse. Pädagogisches Handeln hat immer etwas mit einer sehr
komplexen Mischung von natürlicher Entwicklung, die nicht
gesellschaftlich unmittelbar affiziert werden kann, und natürliche
Entwicklung in gesellschaftlichen Kontexten zu tun, also wie es
Bernfeld beschrieben hat: Summe der Reaktionen auf die
Entwicklungstatsache. Die Entwicklungstatsache ist etwas biologisch
natürliches gegebenes, mit dem wir uns auseinandersetzen müssen, von
dem wir auch wissen, dass es ganz unterschiedlich sich entwickelt.
Es gibt eine Eigenlogik von Pädagogik. Diese Eigenlogik von Pädagogik
kann durch Gesellschaften beschädigt, zerstört werden.
Gesellschaften können verhindern, dass pädagogisches Handeln möglich
wird. Wir können es noch weiter treiben: Gesellschaften können dazu
beitragen, dass Menschen geradezu kollektiv verrückt werden und sie
merken es nicht, weil sie nämlich in dieser Gesellschaft gleichzeitig
sozialisiert werden.
Eine gute Pädagogik kann, kann, muss aber nicht und das kann auch gar
nicht ihre Aufgabe sein, Gesellschaft verändern, wenn wir Kindern,
wenn wir Menschen zeigen, dass es so etwas wie Subjektivität gibt,
dass es ihre Subjektivität gibt, dann verändern wir Gesellschaften
aber, das sind ganz schwierige Aufklärungsprozesse, die eigentlich
schon fast selbst wiederum politische Prozesse sind und insofern aus
der Pädagogik herausführen. Gesellschaften aber nehmen massiv
Einfluss.
Das müssen wir sehen und wir sehen es heute in der paradoxen Weise,
dass es gerade nicht sehen.
Sie nehmen massiv Einfluss auf pädagogische Institutionen auf
Handlungsformen, also die Technisierung der Sozialen Arbeit ist ein
soziologisch zu analysierender Prozess, in dem Gesellschaft auf
soziale Arbeit Einfluss nimmt, sie beschränkt in ihren
Handlungsmöglichkeiten und damit massiv verändert.
Die Dialektik dieses Verhältnises ist sehr sehr kompliziert.
Wichtig ist nur, und das ist tatsächlich ein ganz kontroverser Punkt
ein Streitpunkt mit ganz ganz vielen, die eher sozialwissenschaftlich
denken. Ich sage: "Liebe Leute, bitte bedenkt es geht um
Naturprozesse." Und da konnten wir in den letzten Jahren wieder mal
von Neurowissenschaften enorm viel lernen.
Nur das, was wir da lernen konnten, das ist ganz witzig, muss man
wirklich sagen, das war vor 200 Jahren auch schon bekannt und noch
viel früher auch, also dass wir uns auf Entwicklungsprozesse von
Menschen einlassen. "Das geöffnete Fenster", was so über die
Neurowissenschaften in die Pädagogik hineingekommen, ist um 1900
diskutiert worden... Das ist um 1800 diskutiert worden und früher
finden wir es auch. Also, dass man darauf achten muss, wann Menschen
sozusagen empfindlich sind, empfänglich sind für Information. Da
hinzugucken, also das ist ja so diese Theorie des offene Fensters.
Oder Copei hat vom "wilden Moment" gesprochen, den man aufzusuchen
hat.
Das sind alles eigentlich im Grunde alte Hüte. Heute kriegen wir es
ein bisschen besser hin, weil wir, nicht zuletzt etwa durch
bildgebende Verfahren, tatsächlich sehen können, wie dieses
neurologische Dingsda in unserem Kopf, wie das funktioniert. Also
einigermaßen wird das sichtbar.
Helmut Lambers: Und da wird es noch einmal spannend. Aber nochmal ganz
entscheidend, ich wiederhole mich in dem Fall gerne, wir müssen diese
Naturgrundlage erkennen. Also nochmal um beispielsweise das
Demenzproblem anzugucken. Also Demenz könnte in einem gewissen Maße
gesellschaftlich induziert sein, durch die Tatsache zunächst einmal
allein, dass wir aufgrund gesellschaftlicher Veränderung, kultureller
Veränderungen länger leben können. Vorher haben wir Demenz nicht
gemerkt. Die hat es wahrscheinlich genauso gegeben, aber es ist ein
Naturprozess. Und mit dem gehen wir um.
Und ich finde es nicht dramatisch. Also, dass wir Natur sind, altern
oder auch sonst irgendwie verändern. Das ist ja auch was ganz gutes.
Ja, Sie hatten gerade das Stichwort "Fenster, Neurowissenschaften",
das wollen wir jetzt nicht weiter vertiefen, aber das Stichwort
Fenster will ich mal aufgreifen, um nach den Herausforderungen zu
fragen, was sehen wir wenn wir durch das Fenster in die Zukunft
versuchen zu schauen? Eine Herausforderung für die Theoriebildung der
sozialen Arbeit. Sie selber haben etwas später mal im Jahr 2006
aufgrund einer kapitalismuskritischen Analyse eine Feststellung
getroffen, die muss ich jetzt mal vorlesen.
Demnach stehen wir vor einer dramatischen Umwälzung.
In der der gesellschaftliche Ort der Sozialpädagogik, ihre Aufgaben
und Leistungen vor allem ihre Theorie neu bedacht werden müssen und
dann überraschenderweise eine Konsequenz daraus ist, wie Sie
schreiben, dass soziale Arbeit weniger ihre Aufmerksamkeit auf
Strukturen richten darf, sondern sich tatsächlich mit individuellen
Subjekten in ihrer konkreten elenden Lebenssituation zu befassen hat.
Können Sie das begründen?
Also zunächst würde man ja mal vermuten, dass es dann umso wichtiger
ist auf Strukturen zu schauen. Aber genau das ist ja... das empfehlen
Sie ja gerade nicht, sondern die Zuwendung zu den individuellen
Subjekten.
Herr Winkler: Ich wusste gar nicht, dass ich so schlaue Sätze
schreibe! Also ein durchgängiges Motiv das hat sich ja vielleicht
schon gezeigt ist, tatsächlich das Interesse an Menschen in
schwierigen Lebenslagen. Und das, denke ich, ist die zentrale Aufgabe
eigentlich sozialer Arbeiten und sozialen Pädagogik. Also sie ist sehr
viel mehr an/auf Menschen in ihren gesellschaftlich geformten
Lebenslagen gerichtet und sie sollen sehr vorsichtig sein, das ist so
mein Grundplädoyer, da kriege ich auch immer Schläge von guten
Freunden auch dafür, gegenüber allzu schneller Verbindung mit
Sozialpolitik.
Ich denke wir überfordern uns auf der einen Seite und wir verlassen
auch eigentlich die Aufgabe, die wir, man so will, systemisch und
professionell bekommen haben, nämlich uns tatsächlich zunächst einmal
um Menschen in schwierigen Situationen zu kümmern. Auch sehr
pragmatisch Lösungen für diese schwierigen Situationen zu finden und
ich finde das ist eine ehrenvolle Aufgabe es ist eine sinnvolle
Aufgabe.
Ich habe zum Beispiel auch nichts gegen die Vorstellung, die ja oft
treten wird, und zwar negativ vertreten wird, soziale Arbeit sei nur
die Feuerwehr. Also wenn man sieht, was die Feuerwehr leistet finde
ich das grandios und Klasse. Ganz abgesehen davon, dass die ohnehin
schon im präventiven Brandschutz dauernd unterwegs sind, was uns
manchmal ja das Leben zur Hölle macht aber nun gut. Eine paradoxe
Formulierung, aber nun gut.
Egal. Jedenfalls, das ist eigentlich das grundlegende fachliche
Interesse, was ich als Pädagoge habe. Also um es mal sehr banal zu
formulieren: die Hoffnung die Gesellschaft zu verändern, ist eine
Hoffnung die sich auf Jahrzehnte bezieht.
Kinder müssen aber heute irgendwo erzogen werden.
Krisen müssen heute bewältigt werden und auch nicht in drei Jahren. Da
sind die schon durch.
Das ist eine Aufgabe, die wir auch tatsächlich ernsthaft annehmen
müssen.
Das ist die eine Seite. Die andere Seite, die mich ja auch schon in
der Theorie der Sozialpädagogik beschäftigt hat, ist, dass wir in
einer Gesellschaft leben, und witzigerweise habe ich das ja
geschrieben, bevor Becks Buch gekommen ist über die
Risikogesellschaft, in einer Gesellschaft leben, in der es sozusagen
die Grundtendenz der Individualisierung, oder wie Reckwitz jetzt dann
gesagt hat, der Singulisierung gibt. Also Reckwitz beschränkt das ja
auf eher Kulturschaffende Bereiche, aber wie auch immer. Aber die
Grundtendenz besteht, dass die Mechanismen der gesellschaftlichen
Bindung, dass die zunehmend zumindest problematisiert werden und
problematisch werden, wenn man sozusagen auf die Individualität
verwiesen ist und bis hin zu der Paradoxie, dass wir gewissermaßen
asozial sozialisiert werden.
Jeder Soziologe kriegt ein Schreikampf, aber es ist offensichtlich
das, was wir beobachten können in vielen Bereichen. Nicht in allen.
Das muss man ganz deutlich sehen.
Ich meine man kriegt die Bindungen nicht los, hat mal ein
konservativer frankfurter Soziologe erkannt, Otto Hondrich. Und da ist
schon was dran.
Aber diese Tendenzen sind sehr stark.
Diese Tendenzen sind auch insofern sehr stark, weil nämlich diese
Individualisierung ganz eng verbunden ist mit den Prozessen von
Ökonomisierung, Marktorientierung, globaler Marktorientierung, sodass
die Entsolidarisierungsprozesse sich so durchsetzen, dass wir
inzwischen ja massive Schwierigkeiten hätten uns als soziale Arbeit
und Sozialpädagogik zu rechtfertigen, wenn es nicht längst eine, wenn
man so will, eine Funktion dieser Gesellschaft wäre.
Die Gesellschaften brauche immer mehr soziale Arbeit, weil sie immer
weiter auseinanderfallen. Nicht in allen Bereichen, nochmal das ist
ganz wichtig, dass man das sieht, aber grundstrukturell. Das ist
eigentlich das Problem, was ich in beiden Büchern aber noch nicht
kapiert habe und noch nicht kapieren konnte, ist, was mir jetzt
zunehmend deutlich wird. Wir sind allesamt, auch wir, die wir hier
sitzen, Kinder oder Erwachsene dessen, was man als Neoliberalismus
bezeichnet. Wir diese Denkmuster, diese Denkstrukturen, diese
Individualisierungsprozesse so durchgemacht und so verinnerlicht, dass
es uns außerordentlich schwer fällt über so etwas nachzudenken, wie
selbstverständliche Solidarität im Alltag. Wir kriegen es zwar
inzwischen hin, dass wir bei bestimmten Ereignissen mit anderen
Helfern solidarisch miteinander umgehen.
Aber als Grundprinzip ist diese marktorientierte, marktförmige
Orientierung auf Konkurrenzverhalten, auf Ellenbogenverhalten, wenn
man es so will. Die hat sich gesellschaftlich so massiv durchgesetzt,
dass wir gar nicht mehr merken, wie stark wir sozusagen Opfer dieser
neoliberalistisch schleichenden, so sagt es Wendy Brown, ökonomischen
Marktorientierung geworden sind.
Wir glauben das alles und das ist zum Beispiel das Verhängnisvolle an
der Bildungsdebatte. Die Bildungsdebatte ist nie eine Frage,
sozusagen, der Aneignung von sozialer Welt, der Herstellung von
Miteinander, von Erfahrungszusammenhängen, sondern die Bildungsdebatte
ist eine "Wie kann ich, sozusagen, optimal für mich mich positionieren
in einer Gesellschaft, in der ich dann, so wie ich mich hergestellt
habe, schlicht und einfach instrumentalisiert werde, verbraucht werde
und in vieler Hinsicht entleert werde, um flexibel dann letztlich dem
Kapital zu dienen."
Martin Klein: Das klingt ja durchaus teilweise pessimistisch oder
sogar sehr pessimistisch.
Gleichzeitig endet Ihr Buch "Die Theorie oder eine Theorie der
Sozialpädagogik" mit dem Hinweis "Erziehung gelingt". Und da erkennt
man dann ja auch wieder dieses optimistische, was sie ganz zu Beginn
ja gesagt haben.
Wenn Sie auf die Perspektive Ihrer Theorie schauen, die Perspektive
bezüglich dieser Herausforderung, was kann man von Ihrer Theorie
erwarten? Wie kann man damit eigentlich diese Herausforderungen
angehen und vielleicht auch zu einem besseren Ende führen oder zu
einer besseren Entwicklung führen?
Herr Winkler: Das ist eine sehr sehr schwierige Frage. Die würde ich
ja fast lieber den Theologen überlassen aber...Erstens, wie ich es
gerade angedeutet habe, es gibt viele Bereiche, auch in den
schwierigsten Gesellschaften, in denen so etwas wie miteinander
möglich ist und erfahren wird, sei es in Krisensituationen, aber auch
im alltäglichen Zusammenhang.
Ein wichtiger Punkt ist, das Buch haben Sie ja gar nicht erwähnt, ich
habe ja auch über Familie geschrieben.
Ich denke, dass familiäre Kontexte, wie Familien auch immer aussehen
mögen, oder dass familiäre Kontexte durchaus auch Gegenwelten sein
können.
Und ich denke, dass zumindest in den letzten jünf sechs Jahren sich
tatsächlich auch ein bisschen eine Aufbruchstimmung wieder in der
jungen Generation zeigt, die sagt: "Also diesen ganzen neoliberalen
Scheiß, auf Deutsch gesagt, möchten wir gar nicht mitmachen."
Wir wissen es aus der Bietriebssoziologie, also gerade die jungen
Leute, die neu in Betriebe hineinkommen, die sagen: "Für mich ist
Lebensqualität", schwieriger Begriff, aber.. "das ist wichtig
miteinander etwas gemeinsam zu machen." Da, glaube ich, passiert
etwas. Aber ich bin leider insofern noch pessimistisch.
Ich denke das geht eher tatsächlich als grass-roots Initiative, eher
im Kleinen. Auf der großen politischen Ebene, fürchte ich, ist es
momentan extrem schwierig geworden. Deswegen warne ich auch immer vor
allzu großer Nähe zur Politik, weil die Politik sich so verändert hat.
Die ist im Prinzip ein Eigensystem geworden, über das dann in Medien
berichtet wird, aber die kaum mehr angekoppelt wird an die
alltäglichen Lebenszusammenhänge und Erfahrungen. Was wichtig sein
wird, glaube ich, für die Soziale Arbeit ist tatsächlich der Blick auf
sehr nahe Infrastrukturen.
Also wir müssen tatsächlich auch darüber nachdenken, wie können
Menschen wohin kommen.
Ganz banal, also ältere Menschen, die... ich kennen eine Region,
Weimarer Land beispielsweise, wenn man da vom Land in die Stadt
hineinfahren will, nach Weimar zum Arzttermin und der ist um 12 Uhr,
muss man trotzdem den Schulbus um sieben Uhr nehmen. Da passiert eine
ganze Menge NICHT.
Das erzeugt auch sehr viel Verdrossenheit.
Ansonsten, das ist sehr banal, was ich da sage jetzt.
Es ist entscheidend tatsächlich Gespräche in Kontakt miteinander zu
kommen, Begegnungen zu schaffen, die nicht von vornherein unter
kompetitiven Zwecksetzungen stehen.
Die Herstellung von, jetzt nehme ich einen Ausdruck und da kriegen
alle immer Schnappatmung, von Gemeinschaft.
Das ist eigentlich ganz entscheidend im angelsächsischen Diskurs ist
das schon länger...search of community, Bauman beispielsweise hat das
ja beschrieben. Das sind so die Bewegung, die sich abzeichnen und da
bin ich momentan nicht so ganz pessimistisch, aber wie es wirklich
ausgeht...
Hat irgendjemand damit gerechnet dass Trump gewählt wird? Hat
irgendjemand damit gerechnet dass der Brexit stattfindet?
Da müssen wir uns überraschen lassen, allerdings, denke ich, muss man
da sehr vorsichtig sein und achtsam sein, aber das ist ein anderes
Thema.
Martin Klein: War dann der Satz "Erziehung gelingt" zu positiv?
Herr Winkler: Nein, ich bin da eigentlich auch durchaus optimistisch.
Nur nicht so sicher im Blick auf beispielsweise Schulen.
Wobei ich auch da sofort wieder relativieren muss.
Ich habe wunderbare Schulen erlebt. Tolle Schulen, wo ich merkte da
herrscht eine Atmosphäre und die Kinder, die da rausgehen, das sind
andere Kinder, als wiederum in anderen Schulen.
Ich denke es bleibt uns einfach auferlegt die Arbeit zu leisten auch
jungen Menschen in der Ausbildung zu sagen: "Kommt! Ihr arbeitet mit
jungen Menschen zusammen oder mit Erwachsenen. Nehmt Sie als Subjekte
wahr! Was heißt das für euch konkret?"
Helmut Lambers: Ja, offensichtlich gelingt das aber möglicherweise
nicht so gut, wie es sich die sogenannte inklusiver Pädagogik
vielleicht vorgenommen hat.
Wir hatten vor einigen Tagen hier einen großen Kongress zum Thema
Kinderrechte. Stichwort "große Lösung", schwieriger Begriff.
Die Kinder und Jugendhilfe wartet ja seit 30 Jahren darauf, dass
Inklusion auch in der Kinder-und Jugendhilfe ankommt.
Ich hatte eingangs schon erwähnt, dass sie aktuell jetzt ein Buch
vorgelegt haben "Kritik der Inklusion".
Das läuft ja so ein bisschen gegen den Strom und es wäre schön, wenn
sie uns vielleicht zwei, drei Sätzen kurz umreißen können, worum es in
Ihrer Kritik der Inklusion eigentlich geht.
Herr Winkler: Es läuft tatsächlich gegen den Strom, weil ich oftmals
ein bisschen dazu tendiere gegen den Strom zu schwimmen. Ich bin
oftmals nicht einmal meine eigene Meinung, aber wie auch immer. Also
eine Grundaufgabe, eine Grundidee des Buchs war schlicht und einfach
sehr ernsthaft mit der Thematik umzugehen.
Ich habe die ganze Zeit mich geärgert darüber, dass alle sozusagen von
Inklusion schwärmen aber gar nicht drüber nachdenken was heißt das.
Das Buch lehnt Inklusion gar nicht ab, sondern versucht tatsächlich,
wie es sich in einer ordentlichen Kritik gehört, zu begreifen worum
geht es da, welche Perspektiven sind inhaltlich damit verbunden wo
sind sozusagen auch die dunklen Seiten, die man bedenken muss. Und die
eine dunkle Seite ist beispielsweise, dass Inklusion, wo immer wir sie
beobachten können, gewissermaßen arbeitsmarktorientiert ist. Also es
geht immer zentral und Großbritannien war da, oder genauer gesagt
England, nicht Schottland, war hier ein negatives Vorbild.
Inklusion heißt "inklusive Education" als Arbeitskraft und für den
Arbeitsmarkt. Das ist die eine Seite.
Jetzt muss man dazu sehen, was mich so völlig irritiert, bei der
Inklusionsdebatte ist, es gibt auf der einen Seite die Analyse, die
Gesellschaftsanalyse, die da lautet: "Die modernen Gesellschaften sind
hochgradig segregierend, sie schließen Menschen aus, sie exkludieren."
Und jetzt kommt dann die Forderung nach Inklusion Das kriege ich in
meinem Kopf nicht zusammen, ganz offen gestanden, dass ich jemanden in
eine Gesellschaft inkludieren soll, die gewissermaßen systematisch
darauf angelegt ist und systematisch darauf wirkt Menschen zu
exkludieren.
Ich denke da muss man anders denken und auch anders handeln. Das ist
die eine Seite und die andere Seite ist: vieles von dem, was in der
Inklusionsdebatte, jetzt mal von den ganzen pragmatischen Dimensionen,
über die ja sehr viel in Schulen und von Seiten der Lehrerverbände
gesprochen wird, mal ganz abgesehen, was mich an der Inklusionsdebatte
stört ist, dass sie nicht wirklich pädagogisch denkt.
Jede und jeder der wirklich pädagogisch denkt weiß, es geht in
pädagogischen Prozessen um die Achtung die Anerkennung der
Individualität in ihrer Besonderheit. Und jedes Kind ist "unnormal".
Gott sei Dank! Wir versuchen jedem Kind in seiner Bildsamkeit gerecht
zu werden.
Und das ist ein pädagogisches Anliegen und das pädagogische Anliegen
heißt der Individualität gerecht zu werden. Also Heterogenität ist
immer schon ein pädagogischer Gedanken gewesen.
Auf der anderen Seite geht es darum einem Kind zu ermöglichen in einer
Gesellschaft, in seiner Gesellschaft, in seiner unmittelbaren
Gesellschaft einigermaßen gut selbstbestimmt leben zu können.
Das ist der pädagogische Grundgedanke, um nichts anderes geht es. Und
diesen pädagogischen Grundgedanken würde ich gern in der
Inklusionsdebatte sehen und dann würde sie sich für Pädagoginnen und
Pädagogen, wenn wir pädagogisch denken würden, würde sie sich
erledigen.
Dann brauchen wir nicht über Inklusion reden, aber hier wird so vieles
vermischt.
Das versuchte ich da mal ein bisschen auseinander zu debattieren und
ich ende ja auch etwas pathetisch mal doch wieder darüber
nachzudenken, was eigentlich menschliches Sein menschliches Leben
bedeutet und was vielleicht ein gutes gerechtes, wie Platon sagen
würde, menschliches Leben bedeutet.
Helmut Lambers: Vielen Dank für diesen kurzen Aufriss.
Wir kommen jetzt zu den abschließenden Fragen für unsere Studierenden.
Martin Klein: Und zum Abschluss die Frage: Warum ist es eigentlich
eine gute Idee soziale Arbeit zu studieren?
Herr Winkler: Ich weiß gar nicht, ob es für jede und jeden eine gute
Idee ist, aber wer dazu tendiert, dass sie oder er sich mit
Gesellschaft und gesellschaftlichen Bedingungen des Aufwachsens und
des Lebens auseinandersetzt, auf der einen Seite.
Und wer unbändiges Interesse an Menschen hat, der, finde ich, ist mit
dem Studium sozialer Arbeit eigentlich sehr sehr gut bedient, weil
genau beide Bedürfnisse und beide Interessen in dieser Profession und
in dieser Disziplin, wenn man sich stärker wissenschaftlich damit
beschäftigt, eigentlich sehr sehr gut beachtet werden.
Ich sage aber auch noch etwas ganz persönliches dazu.
Ich habe ja Pädagogik studiert. Mich hatte an der Pädagogik immer
völlig fasziniert, wie weit und breit und reich man denken darf. Das
finde ich faszinierend. Man kann in vielen Bereichen.. Manche sagen:
"Oh wo ist eigentlich der Kern dieses Bereichs?" Ich finde es eher wie
ein Kirschbaum und da sind ja viele Kerne dran.
Ich finde es völlig faszinierend und hätte mich in jeder anderen
Disziplin und Profession genauso sicher nicht wohlgefühlt, weil ich
immer nochmal da schauen und da gucken könnte. Wir sind mehr an dem
Reichtum der menschlichen Möglichkeiten interessiert. Das klingt so
pathetisch, stammt aber von Marx.
Der ist mit dem Fach gut bedient.
Martin Klein: Wenn Sie sich Studierende im ersten Semester vorstellen,
würden Sie denen einen Tipp mitgeben? Was würden Sie denn sagen, wenn
sie sich auf dem Weg durchs Studium machen?
Herr Winkler: Ich würde sie wahrscheinlich erst einmal tatsächlich in
die Praxis schicken, erster Tipp oder nochmal drüber nachdenken.
Die meisten haben ja Praxiserfahrung, das ist die Jugendarbeit oder
sonst irgendwo. Und den Tipp, den ich eigentlich geben würde, ist erst
mal was ganz anderes zu lesen, also Literatur Robert Seethaler
beispielsweise "Ein ganzes Leben" und sich von da in das Feld hinein
arbeiten und eigene Vorstellungen entwickeln worauf man sich einlässt
und was man lieber lassen soll.
Martin Klein: Was würden Sie Studierenden empfehlen, die kurz vor
Abschluss ihres Studiums sind und den Sprung in die Praxis vor sich
sehen?
Herr Winkler: Denen, und vor allem denjenigen die dann in der Praxis
schon drin sind, würde ich empfehlen, denen macht es dann nämlich auch
Spaß, tatsächlich Theorie zu lesen, also entweder Klassiker, also mal
sich auseinanderzusetzen mit einem Text nochmal gründlich von
Pestalozzi und zu überlegen: "Was sagt der mir für die Gegenwart? Kann
dieser verschwurbelt schreibende Mensch, kann der mir etwas sagen und
eröffnete der mir nochmal Denkperspektiven?" Oder tatsächlich aktuelle
Texte, also von Hans Thiersch, Lothar Böhnisch beispielsweise auch.
Ich gebe zu, ich bin so eitel und sage: "Lest doch mal ruhig meine
Bücher, ist alles gut." Tatsächlich sich noch mal intensiv mit Theorie
auseinanderzusetzen. Oder aber, dritte Punkt, also neben der Literatur
und den Klassiken in der Sozialen Arbeit und den aktuellen Texten,
doch auch noch mal Texte aus anderen Disziplinen.
Für mich war beispielsweise der schon genannte Lucien Seve ungeheuer
beeindruckend. Schwieriges Buch. Toll, und viel profitiert habe ich
beispielsweise von Norbert Elias und ich finde immer noch die
Schriften von Norbert Elias die sind völlig faszinierend auch wenn man
kritisch dazu stehen kann, sagt: "Stimmt das denn?"
Da nochmal tatsächlich nochmals ein Durchgang durch ein
schwerwiegendes anspruchsvolles Theoriewerk zu machen, egal wo es
herkommt. Das ist, glaube ich, so noch vor dem Ende des Studiums ganz
ganz wichtig. Und wenn man im Arbeitsprozess drin ist an der
Abschlussarbeit dann ohnehin bitte unbedingt mal was anderes lesen,
also Kriminalromane oder irgendetwas anderes.
Die Ablenkung der Aufmerksamkeit das ist eigentlich das ganz zentrale.
Martin Klein: Sie sind ein großer Freund der Literatur. Und unsere
Abschlussfrage ist, sie haben ja schon einige Bücher empfohlen.
Aber wenn Sie ein Buch empfehlen dürften, was alle Studierende der
Sozialen Arbeit gelesen haben sollten, oder alle SozialarbeiterInnen
gelesen haben sollten, gäbe es da eins?
Herr Winkler: Ich fürchte ja, und das wird jetzt völlig irritieren,
aber es ist ein Buch, das zu seiner Zeit.. spekulatives.. es ist ein
kleines Büchlein, hochspekulativ war. Und Momentan haben wir den
Verdacht, oder können wir den Verdacht haben, dass es richtig war. Ich
würde "Das Kommunistische Manifest" empfehlen. Das überrscht Sie
wahrscheinlich, aber dieses Buch bewegt einen, in welche Richtung auch
immer.
Aber es ist in seiner Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse, und
die Jungs haben das ja eher spekulativ gemacht, ist das so präzise im
Blick auf das, was uns gegenwärtig widerfährt, dass ich nur sagen
kann: Ja, es ist ganz wichtig. Und es ist zweitens ein Buch, das
zutiefst geprägt ist von dem Gedanken von Solidarität.
Martin Klein: Und deswegen diese Empfehlung. Es sind ja nicht so viele
Seiten.
Helmut Lambers: Vielleicht haben Marx und Engels doch Recht.
Herzlichen Dank.
Für das Gespräch.