Duderstedt auf Kultour

Andreas Duderstedt
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Hiob in Prag

Ohne das Judentum ist sein Werk undenkbar: Franz Kafka starb vor hundert Jahren

17.06.2024 8 min

Zusammenfassung & Show Notes

Er lernte Hebräisch. Er fühlte sich vom Zionismus angezogen und wollte nach Palästina auswandern. Fast alle seine Freunde waren Juden. Er war begeistert vom jiddischen Theater und hielt einen Vortrag über die jiddische Sprache. Das assimilierte Pro-Forma-Judentum seines Vaters verachtete er. Am 3. Juni 1924, vor hundert Jahren, starb Franz Kafka.
 
Intensiv beschäftigte er sich mit dem Glauben des Volkes Israel. Zugleich fragte er sich in seinem Tagebuch: „Was habe ich mit Juden gemeinsam?“ Und antwortete: „Ich habe kaum etwas mit mir gemeinsam und sollte mich ganz still, zufrieden damit, daß ich atmen kann, in einen Winkel stellen.“
Franz Kafka, ein Jude unter Christen, ein Deutscher unter Tschechen. Acht Prozent der Prager Bevölkerung sprachen um 1900 deutsch, und von diesen acht Prozent waren fast drei Viertel Juden. Prag, wo er 1883 geboren wurde, war neben Wien „die große Keimzelle der deutschen Literatur“ des 20. Jahrhunderts, schrieb Walter Jens. In Prag begegneten sich böhmische, österreichische, deutsche und jüdische Kultur.
Der „Winkel“, in den sich Kafka wie ein ungehorsames Kind stellen wollte, „gab ihm die Perspektive eines präzisen Beobachters“, erklärt die Germanistin Vivian Liska von der Universität Antwerpen. Dieser Beobachter zeichnet zwar keine einzige Figur, die als jüdisch erkennbar ist. Und doch: Jedes Buch, jede Zeile redet vom Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs. Davon waren jedenfalls die frühen Interpreten Kafkas überzeugt, allen voran der Freund und Förderer Max Brod (1884-1968), für den Kafka „ein Erneuerer der altjüdischen Religiosität“ war, „die den ganzen Menschen, die sittliche Tat und Entscheidung des Einzelnen im Geheimsten seiner Seele verlangt“. Und für die Philosophin Margarete Susmann (1872-1966), die bereits 1929 den Essay „Das Hiob-Problem bei Franz Kafka“ veröffentlichte, lag der Zusammenhang mit dem Hiob der hebräischen Bibel auf der Hand. Hiob ringt mit der Frage nach göttlicher Gerechtigkeit, Kafkas Gestalten ebenfalls. Doch Hiob, obwohl sich sein Leid einer Erklärung entzieht, wird am Ende von Gott, den er nicht begreift, in Gnaden angenommen. Er weiß, dass sein Erlöser lebt. Diese tröstliche Zuversicht fehlt Kafkas Figuren. In der Parabel „Vor dem Gesetz“, die in den Roman „Der Prozess“ eingefügt ist, wird einem Mann der Eintritt in das Gesetz versagt, sein Leben lang wartet er vergeblich. Margarete Susmann: „Im Herzen dieses unheimlichen und qualvollen Traumgespinstes, das unser Leben ist, steht das Hiobproblem des Leides und der Schuld. Aber der Zusammenhang zwischen Leid und Schuld ist […] vollkommen unbegreiflich geworden.“ Der Einzelne kann seiner Schuld nicht entrinnen: „Diese Schuld ist gesetzt damit, daß Gott sich von uns zurückgezogen hat und daß wir in dem Zusammenhang mit ihm auch den Zusammenhang mit uns selbst und mit der Welt verloren haben, dass wir nicht mehr wissen, was wir tun sollen.“
Für Kafka war das Schreiben quälend und befreiend zugleich. Nachts hat er geschrieben, tagsüber arbeitete der promovierte Jurist in seinem „Brotberuf“ – durchaus anerkannt und erfolgreich – für die „Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt für das Königreich Böhmen“. Er litt, wenn er nicht zum Schreiben kam. Schrieb er, strömte es aus ihm heraus, doch das Leiden blieb auch dann nicht aus: Er zweifelte zeitlebens an der Qualität und Bedeutung seiner Werke. Ohne den Freund Max Brod, der als Literaturagent aktiv war und erfolgreich mit Verlagen verhandelte, wäre zu Kafkas Lebzeiten sehr viel weniger aus seiner Feder veröffentlicht worden.
Von den dichterischen Aktivitäten seines Sohnes hielt Franz Kafkas Vater gar nichts. Hermann Kafka, der sich aus einfachsten Verhältnissen nach harter Jugend zum wohlhabenden Geschäftsmann in Prag emporgearbeitet hatte, wurde von Franz als tyrannisch, brutal und ungerecht empfunden. Von der Stärke, Gesundheit, Selbstzufriedenheit, Weltüberlegenheit, Ausdauer, Geistesgegenwart, die der Dichter seinem Erzeuger in dem berühmten „Brief an den Vater“ (1919) attestiert, hat er nach eigenem Empfinden selber nichts. Kein Wunder, dass ihn oft ein „Gefühl der Nichtigkeit“ beschlich; jämmerlich kam er sich vor, „und zwar nicht nur vor dir, sondern vor der ganzen Welt, denn du warst für mich das Maß aller Dinge“. Der 103 handschriftliche Seiten umfassende Brief ist ein autobiografisches Prosastück ersten Ranges. Er hat ihn nie abgeschickt oder übergeben. 
Vernichtend äußert er sich über das Judentum des assimilierten Vaters, dessen Muttersprache Tschechisch war und der seine Kinder in Prag in deutsche Schulen schickte. Im Judentum hätten sich Vater und Sohn doch finden können, schreibt Franz Kafka: „Aber was war das für Judentum, das ich von Dir bekam!“ Gähnende Langeweile in der Synagoge, eine „Komödie mit Lachkrämpfen“ der häusliche Sederabend zum Passahfest. Das bittere Urteil des Sohnes über die Religion des Vaters: Sein Glaube habe darin bestanden, dass er an die unbedingte Richtigkeit der Meinungen einer bestimmten Gesellschaftsklasse – die assimilierten Prager Juden – glaubte „und eigentlich also, da diese Meinungen zu deinem Wesen gehörten, Dir selber glaubtest.“ Franz Kafka begeisterte sich für das jiddische Theater aus Polen und freundete sich mit einem seiner Schauspieler an, Jizchak Löwy. Hermann Kafka nannte ihn „Ungeziefer“ – und „zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt“ sieht sich Gregor Samsa, der Protagonist in Franz Kafkas berühmtester Erzählung „Die Verwandlung“ (1915).