Duderstedt auf Kultour

Andreas Duderstedt
Since 08/2022 32 Episoden

Von Zivilcourage, Schuld und Vergebung

Erinnerung an Albrecht Goes

02.07.2025 10 min

Zusammenfassung & Show Notes

Von Zivilcourage, Schuld und Vergebung
Er war als Pfarrer und Dichter nach NS-Diktatur und Krieg eine vielbeachtete Stimme für Versöhnung und gegen Wiederaufrüstung. Heute ist die Erinnerung an Albrecht Goes verblasst – zu Unrecht.
 
Zivilcourage. Dafür hat die deutsche Sprache nur ein Fremdwort. Doch es gibt sie – und es gab sie selbst unter der Diktatur, wo Zivilcourage lebensgefährlich sein konnte. Albrecht Goes war „durch und durch ein Citoyen“, schrieb der Pfarrerkollege Herwig Sander 2008 zum 100. Geburtstag: ein Bürger, der im Sinne der Aufklärung den Staat, das Gemeinwesen, mitgestaltet. Das schließt auch Zivilcourage ein. Als Dichter und als Theologe war Unruhe für ihn die erste Bürgerpflicht – nicht als Aufsässigkeit, „aber als Wachsamkeit um jeden Preis“.
 
Den Heldinnen und Helden des Alltags in der Nazizeit, die wachsam waren und Zivilcourage bewiesen, hat Albrecht Goes in seiner Erzählung „Das Brandopfer“ (1954) ein Denkmal gesetzt. Die jüdische Bevölkerung einer Stadt darf nur noch in einer einzigen Metzgerei einkaufen, und auch dies nur für zwei Stunden pro Woche. Die Metzgersfrau muss mit ansehen, wie der Kreis ihrer jüdischen Kundschaft immer kleiner wird, immer mehr werden deportiert. Trotz strengen Verbots bemisst sie die kargen Rationen so großzügig wie möglich und steht den Bedrängten auch sonst bei. Immer stärker wird sie zur Mitwisserin, zur Vertrauten. „Und das ist die winzige, die wunderbare Möglichkeit des Menschen. Man kann ein Einwickelpapier weitergeben und eine Nachricht darin unterbringen. (…) Eine Stunde Vertrauen, ein Atemzug Frieden.“ Doch weil sie am Ende nicht helfen kann, fühlt sie sich schuldig und bleibt bei einem Luftangriff in ihrem brennenden Haus: Sie will ein Opfer bringen, ein Brandopfer. Ausgerechnet ein Jude rettet ihr das Leben.
 
Zivilcourage bewies auch die Pfarrfrau Elisabeth Goes, die als Mitglied der „Württembergischen Pfarrhauskette“ 1944 das jüdische Ehepaar Max und Ines Krakauer vier Wochen im Pfarrhaus von Gebersheim nahe Stuttgart versteckte, später noch zwei jüdische Frauen. Die Pfarrhauskette war eine Untergrundorganisation, die Juden und anderen Verfolgten Zuflucht bot. Ihr Ehemann erfuhr erst nach seiner Rückkehr aus dem Krieg davon. Elisabeth Goes wurde später vom Staat Israel als „Gerechte unter den Völkern“ geehrt.
 
„Das Brandopfer“ war das erste literarische Werk eines nichtjüdischen Autors, das die deutschen Verbrechen an den Juden zum Thema machte. Die Erzählung wurde in mehr als zehn Sprachen übersetzt und verfilmt. Sie war auch ein früher Beitrag zur Versöhnung nach der Shoa. Der evangelische Pfarrer Albrecht Goes hatte bereits 1934 mit dem damals noch in Deutschland lebenden jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber Kontakt aufgenommen. Als dieser 1953 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet wurde, hielt Goes die Laudatio.
 
Schuld und Vergebung: ein großes Thema des 1908 in einem schwäbischen Pfarrhaus geborenen Autors. Als Militärpfarrer musste er am Russlandfeldzug teilnehmen und in mehreren Fällen zum Tod verurteilte Deserteure bis zur Erschießung begleiten. Dies hat er in der knappen Erzählung „Unruhige Nacht“ (1950) verarbeitet, die ein großes internationales Echo hatte. Der Auschwitz-Überlebende Primo Levi in Turin, die jüdische Dichterin und spätere Nobelpreisträgerin Nelly Sachs in Stockholm, Thomas Mann, noch in Kalifornien, Hermann Hesse, Carl Zuckmayer und andere waren von dieser Geschichte beeindruckt.
 
In der heutigen Ukraine lernt ein deutscher Soldat eine junge Witwe mit kleinem Kind kennen, deren Mann von seinesgleichen, den Deutschen, getötet worden ist. Eine Liebe im Krieg – der Deutsche tarnt sich als ukrainischer Bauer und will ein neues Leben beginnen, wird durch Zufall verraten und nach Kriegsrecht hingerichtet. Der Wehrmachtspfarrer, Alter Ego von Albrecht Goes, sagt vorher im Gespräch mit einem anderen deutschen Pfarrer: „Wir sind hineinverstrickt, der Hexensabbat findet uns schuldig, uns alle.“ Doch wenn eines Tages alles vorbei wäre, dann käme es darauf an, den Krieg zu entzaubern: „Man muß es dem Bewußtsein der Menschen eintränken, wie banal, wie schmutzig dieses Handwerk ist. (…) Krieg, das ist Fußschweiß, Eiter und Urin. Übermorgen wissen das alle und wissen es für ein paar Jahre. Aber lassen Sie nur erst das neue Jahrzehnt herankommen, da werden Sie’s erleben, wie die Mythen wieder wachsen wollen wie Labkraut und Löwenzahn. Und da werden wir zur Stelle sein müssen…“
 
Albrecht Goes war zur Stelle, als in der jungen Bundesrepublik wieder eine Armee aufgebaut werden sollte. Gemeinsam mit dem Theologen Helmut Gollwitzer, dem späteren Bundespräsidenten Gustav Heinemann und vielen anderen schloss er sich der „Paulskirchenbewegung“ an, die sich gegen die Wiederbewaffnung einsetzte und 1955 in der Frankfurter Paulskirche ein Manifest verabschiedete. „Unruhige Nacht“ wurde in über zwölf Sprachen übersetzt und zweimal verfilmt.
 
1953 gab er seine Pfarrstelle auf, predigte weiterhin zweimal im Monat und lebte als freier Autor in Stuttgart. Aus Albrecht Goes‘ lyrischem Werk spricht eine tiefe Glaubenszuversicht. Seine Verse weisen zumeist formal ins 19. Jahrhundert. Oft in Geburtsanzeigen und Taufeinladungen zitiert: das Gedicht „Die Schritte“ des dreifachen Vaters:
 
Klein ist, mein Kind, dein erster Schritt,
Klein wird dein letzter sein.
Den ersten gehn Vater und Mutter mit,
Den letzten gehst du allein.
 
Sei’s um ein Jahr, dann gehst du, Kind,
Viel Schritte unbewacht.
Wer weiß, was das dann für Schritte sind,
Im Licht und in der Nacht.
 
Geh kühnen Schritt, tu tapfren Tritt
Groß ist die Welt und dein.
Wir werden, mein Kind, nach dem letzten Schritt
Wieder beisammen sein.


 

Doch es gibt auch freie Rhythmen und Montagetechnik – wenn das Thema es nahelegt: Die Erfahrungen von Krieg und Massenmord legen sich würgend auf die unschuldigen Kindheitserinnerungen: 
 
Die unablösbare Kette
 
Als wir im Thujabaum schaukelten einst,
Weißt du noch, Bruder,
Und die Mutter rief unsre Namen hinauf
In den Baumwipfel, Bruder,
Dachte sie wohl, daß Streit uns erwarte,
Denn auch sie, die Tapf’re,
Wußte zu streiten –
Süß war, mild noch und nahe der 
Apfelbaumduft um Jakobi,
Bitter des Nußbaums Arom.
Tisch und Bank war bereit,
Vieles lernen die Knaben:
Sprachen und Länder und Zeit
Und den pythagoräischen Lehrsatz.
Einen Lehrsatz noch nicht:
NUSSBAUMHOLZ IST GUT FÜR GEWEHRSCHÄFTE.
 
Später dann, die Platanenallee,
Und wir führten den Nachen,
Ausruhend jetzt, in das grüne
Dunkel am Hölderlinturm.
Eure Stimmen waren mit uns:
Rahel, Susanne –
Eure Namen: 
Rahel, Susanne –
Heiter dir, Bruder – doch mir
Bang und flüsternd geliebt.
Schöne, vorläufige Namen. Und
Keiner hat uns wissen lassen
DEN DEFINITIVEN SAMMELNAMEN ANNE FRANK.
 
Aber jetzt, wenn das Quittenbaumlaub
Noch im Novemberlicht uns
Seligkeit gaukelt und Glück,
Unschuld der Kreatur –
Wem gehört diese letzte,
Die vergessene Frucht
Dort in der Krone?
Rahel, Susanne, Bruder im Thujabaum –
Jetzt freilich würgt am Halse sogleich die
Unablösbare Kette:
BAUMFRUCHT FRUCHTKERN KERNHAUS
BLAUSÄURE AUSCHWITZ.